Kolumne
Availability Bias
Mojmir Hlinka Direktor von AGFIF International in Zürich

Der Aktien-Boom oder: Nur unter Druck entstehen Diamanten

Durch die Corona-Pandemie ist die meist gehasste Rally an den Börsen durch die unbeliebteste Rally aller Zeiten abgelöst worden. Doch das ist Marktpsychologie. Die nüchterne Analyse ist: Die Aktienmärkte erfahren ihre überfällige Neubewertung.

Nur unter Druck entstehen Diamanten? Was hat dieses physikalische Gesetz mit den Aktienmärkten und der laufenden Rally zu tun? Sehr viel. Denn die Coronakrise ist das Druckmittel in einer Entwicklung, die unausweichlich war: Die Neubewertung der Aktienmärkte und das Ende der Zinsen, wie sie das Verhalten an den Finanzmärkten während Jahrzehnten bestimmt haben.

Folgt man hingegen der Meinung der vermeintlichen Marktexperten, dann ist die massive Erholung an den Börsen seit dem Corona-Crash im vergangenen März und April ein weiteres Zeichen einer «rational exuberance», welche bereits die eine Dekade dauernde Aktienrally nach der Finanzkrise geprägt hat: Dem «Überschwang» ist nicht zu trauen.

Diesem Urteil liegt ein in der Verhaltensökonomie bestens bekannter Denkfehler zu Grunde: Der «Appeal of Tradition» – oder Voreingenommenheit aus Tradition – der uns Annahmen für die Gegenwart oder die Zukunft treffen lässt, weil sie in der Vergangenheit zutreffend waren. Wenn also Zins-Coupons auf Staatsanleihen von 5 Prozent vor 30 Jahren noch die Norm waren und die Aktienbewertungen nach einer Norm getroffen wurden, denen ein bestimmtes Kurs-Gewinn-Verhältnis zugrund lag, dann werden auch heute noch die Finanzmärkte nach diesen «Traditionen» beurteilt.

Dabei herrscht bei Pensionskassen und Sparern rundum Verzweiflung: Auf Staatsanleihen verlieren die Vorsorgewerke systematisch Geld. Sparen heisst heute Anlegen. Ich habe an dieser Stelle oft von TINA geschrieben: There Is No Alternative – die Aktie als Anlageform ist alternativlos. Wir haben dies den Notenbanken zu verdanken, die mit ihrer unendlichen Geldschwemme, die Zinsen unter die Erde gebracht haben. Sogar die Notenbanken sehen die Aktie als alternativlos an: Allen voran die Schweizerische Nationalbank, die unter die zehn grössten Investoren der Welt aufgerückt ist. Die US-Notenbank löst mit ihren Ankündigungen, mit immer neuen Milliarden Unternehmensanleihen zu kaufen, bewusst weitere Kaufwellen an den Aktienmärkten aus.

Doch hier folgt die unvermeidliche Warnung des Marktpsychologen: Nur weil die Flut alle Boote hebt, bedeutet das nicht, dass alle seetauglich sind. Sprich: Auch wenn die Aktienkurse derzeit alle steigen – es ist nicht alles ein Diamant, was glänzt! Anleger drohen hier dem Informations-Bias zum Opfer zu fallen, dem täglichen Trommelfeuer mit teils völlig irrelevanten Informationen.

Was ein wichtiger Faktor dieser Aktienrally ist: Die Börsenindizes verändern sich in ihrer Gewichtung und Zusammenstellung. Die Coronakrise hat eine Sektorenrotation ausgelöst und einige Diamanten geformt. Es sind diese wenigen – aber teils gewichtigen – Diamanten, die den Investoren nun eine breit abgestützte Markterholung suggerieren. Tech-Riesen wie Apple, Amazon, Google, Netflix oder Spotify. Oder um in der Schweiz zu bleiben Inficon, Gurit, Sika oder VAT. Zugegeben, das sind die derzeitigen Favoriten bei AGFIF International.

Der «Appeal of Tradition» scheint auch dann zu wirken, wenn die Marktbeobachter zur Vorsicht mahnen, weil die Börsen so volatil sind. Dazu zitiere ich gerne den Schweizer Psychologen Eugen Bleuler, der vor über 100 Jahren einen für jeden Aktieninvestoren perfekten Satz sagte: «Operative Hektik ersetzt geistige Windstille.» Operative Hektik oder falscher Aktionismus ist der grösste aller Renditekiller an der Börse. Wer seine Aktien sorgfältig gemäss einer definierten Anlagestrategie auswählt, sollte sich nicht erschrecken lassen, wenn es wieder mal holprig wird.

Corona und der anhaltende Druck auf die Zinsen lösen eine grundsätzliche Neubewertung der Aktienmärkte aus und schaffen eine neue Aktienkultur. Es werden so noch einige Diamanten entstehen.

*Mojmir Hlinka ist Direktor von AGFIF International in Zürich, dem einzigen Schweizer Vermögensverwalter, der seine Anlagestrategie konsequent auf der Behavioral-Finance-Theorie abstützt. Hlinka ist Eidg. dipl. Finanz- und Anlageexperte AZEK und Mitglied der Swiss Financial Analysts Association.


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