Mit Karl Reichmuth, einer der letzten Schweizer Bankiers, und Vahan Roth, Gründer der RealUnit AG, reden wir über den Nullzins, das Vertrauen in den Zentralbanken, den Staatsbankrott, der zur Französischen Revolution führte, die Rolle von Aktien in der Krise sowie das Ziel des Wertaufbewahrungsmittels namens RealUnit.
Text: Pascal HügliEntgegen ökonomischem Hausverstand ist der Nullzins heute Realität. Wie konnte es so weit kommen?
Karl Reichmuth: Die globale Liquidität und damit auch die Verschuldung haben historische Höchstwerte erreicht. Auf jede Krise inklusive der 1990er-Wirtschaftskrisen, der Dotcom-Blase 2001 und der Finanzkrise 2008 haben die Zentralbanken mit Zinssenkungen und der Erhöhung der Geldmenge reagiert. Die Zinsen wurden allerdings im Nachgang zur Krise jeweils nicht mehr auf das Vorkrisenniveau angehoben.
Müssen wir uns überhaupt noch Gedanken über die Rolle des Zinses machen, jetzt, wo ihn die Zentralbanken beseitigt haben?
Reichmuth: Der Zins ist und bleibt fundamental wichtig. Er ist der Preis des Geldes. In zeitlicher Hinsicht entschädigt der Zins den Eigentümer für den Verzicht, sein Geld umgehend gegen Konsumgüter zu tauschen. Wenn der Zins wegfällt oder sogar negativ wird, dann ist der Preis des Geldes ebenfalls null oder sogar negativ. Entsprechend lohnt sich der Konsumverzicht nicht mehr. Man könnte sogar behaupten, dass ein Gut, das keinen Preis hat, auch keinen Wert hat.
Was macht den Wert von Geld aus?
Vahan Roth: Wert ist subjektiv. Jeder einzelne bestimmt den Wert eines Gutes aufgrund seiner persönlichen Einschätzung. Gutes Geld allerdings hat in doppelter Hinsicht einen allgemeinen Nutzen: Erstens löst Geld die Ineffizienzen einer Tauschökonomie. Die «Erfindung» des Geldes ist tatsächlich das Fundament unseres Reichtums. Oder in den Worten des österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises: Wo der freie Austausch von Gütern und Dienstleistungen unbekannt ist, ist Geld unerwünscht. Zweitens: Gutes Geld ist stabiles Geld, das Menschen nachhaltig planen lässt.
Warum verlangt Nachhaltigkeit einen Zins?
Reichmuth: Nachhaltigkeit bedeutet Langfristigkeit. Langfristiges Denken ist das Denken über die Zukunft respektive, wie man sich im Antlitz ihrer Ungewissheit am besten positioniert. Künstliche Zinsen fördern kurzfristiges Denken: Statt ökonomisch und ökologisch sorgfältig mit knappen Ressourcen umzugehen, wird unbedacht konsumiert. Das scheint die wenigsten zu kümmern, alle scheinen nur das billige Geld vor Augen zu haben. Roth: Langfristig wird sich das rächen. Die Zentralbanken haben angekündigt, die Zinsen abermals zu senken, kurzfristig könnten sie also noch tiefer fallen. Langfristig jedoch lassen sich ökonomische «Naturgesetze» nicht ausschalten. Irgendwann muss es zu einer Normalisierung kommen, sei es, weil man gerade noch rechtzeitig umdenkt, oder aufgrund von Marktkräften. In letzterem Fall wird es zu einer Krise kommen.
Was könnte der Auslöser einer solchen Krise sein?
Reichmuth: Der fortschreitende Vertrauensverlust in das Machtgefüge. In den letzten Jahren – man denke nur an die Finanzkrise 2008 und die nicht enden wollende Eurokrise – scheinen sich immer mehr Menschen über die Folgen des heutigen Systems Gedanken zu machen. Mit dem Resultat, dass das Vertrauen drastisch schwindet. Davon zeugt auch das Aufkommen von Parallelwährungen.
Es ist letztlich also eine Vertrauensfrage.
Reichmuth: Das war es schon immer. Auch die Französische Revolution war letztlich die Konsequenz eines allgemeinen Vertrauensverlusts in die damalige Gesellschaftsordnung. Der massive Ausbau des Staatshaushalts infolge langjähriger Kriege und astronomische Konsumausgaben für das ausschweifende Leben des Königshofs führten zur Überschuldung des Ancien Régime. So waren private Geldgeber nur noch gegen immer höhere Zinsen bereit, Geld an das Königshaus zu leihen. Dieses konnte sich die Zinslast jedoch nicht mehr leisten. Es kam zum Staatsbankrott.
Und in der Folge zur Französischen Revolution.
Reichmuth: In der Tat. Die Revolution stand im Zeichen von «Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit». Heute haben viele Staaten wiederum zu viele verkonsumierte Schulden, weil sie es wohl mit der Gleichheit und der Brüderlichkeit übertrieben haben.
Heute haben Zentralbanken den Risikozuschlag bei Staatsanleihen ausser Kraft setzen können. Dies dürfte den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit aufschieben.
Roth: Das ist korrekt, doch auch Zentralbanken können die ökonomischen Gesetze nicht auf Dauer ausser Kraft setzen. Es lässt sich nicht genau sagen, wann der Bluff auffliegt. Angesichts der Absurdität des heutigen Systems erwarte ich es schon seit Längerem.
Das erinnert mich an die berühmten Worte des Ökonomen John Maynard Keynes, wonach der Markt länger irrational bleiben kann, als die Marktteilnehmer liquide.
Roth: Das ist sicher eine Erkenntnis, zu der ich in diesem Zusammenhang gekommen bin. Irrationalität kann bedeutend länger andauern, als man ursprünglich erwartet hat. Doch wird sie irgendwann enden müssen.
Sie haben die Französische Revolution angesprochen. Müssen wir mit revolutionsähnlichen Zuständen rechnen, wenn die Irrationalität endet und das System in sich zusammenbricht?
Roth: Unser heutiges Geldsystem führt dazu, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Vermögende Personen können sich dank realer Werte und ausgeklügelter Anlagestrategien gegen die nominale Entwertung durch die Zentralbanken schützen. Der Mittelstand, der hauptsächlich in nominale Anlagen investiert, kann das nicht. Diese Tendenz birgt eine enorme sozialpolitische Sprengkraft.
Welche realen Werte bleiben in Zeiten des kollektiven Entwertungswettlaufs?
Reichmuth: Das Hauptaugenmerk sollte auf Unternehmensbeteiligungen liegen, ferner hat Gold einen historisch einmaligen Leistungsausweis. Wie uns aber die Geschichte zeigt, sind Edelmetalle anfällig für staatliche Verbote. Immobilien sind, wie es ihr Name eben sagt, immobil und können – wie Deutschland in den Jahren 1923 und 1948 bewies – mit allerlei Zwangsabgaben belastet werden.
Warum sind Aktien Ihrer Ansicht nach besser?
Reichmuth: Auch in Krisenzeiten ist der Staat auf Arbeitgeber angewiesen, diese werden deshalb stets geschützt. Davon profitieren auch die Anlegerinnen und Anleger, wenn sie in Aktientitel investiert sind.
Staatliche (Schuld-)Papiere gilt es zu meiden?
Reichmuth: Grundsätzlich: Ja. Man muss jedoch in einem sinnvollen Mass die eigene Landeswährung halten, um über ein, zwei Jahre Verpflichtungen befriedigen zu können. Der Rest ist zwecks Werterhalt und Krisenresistenz in langfristig gut diversifizierten Realwerten anzulegen. Warum? Roth: Ein diversifiziertes Portfolio aus Realwerten kann real betrachtet nicht auf null fallen. Demgegenüber können staatliche Fiatwährungen und Schuldpapiere durchaus wertlos werden – historisch gesehen scheint diese Entwicklung sogar unumgänglich zu sein.
Auf lange Sicht diagnostizieren Sie unserem Finanzsystem den Tod durch Überschuldung. Woran krankt es denn genau?
Roth: Das Grundübel besteht darin, dass Geld nicht mehr gedeckt ist. Geld muss durch einen Realwert gedeckt sein, damit es nichtbeliebig vermehrt werden kann. Wie die Geschichte jedoch zeigt, haben die Regierungen selbst unter dem Goldstandard immer getrickst. Der noch fatalere Fehler unseres Geldsystems ist allerdings dessen Verflechtung mit dem Staat.
Sollte der Staat überhaupt kein Geld ausgeben dürfen? Oder zumindest im Wettbewerb stehen mit privaten Emittenten?
Roth: Der Staat soll Geld herausgeben dürfen. Problematisch wird es, wenn er sein eigenes Zahlungsmittel systematisch bevorzugt, indem er zum Beispiel Steuern nur in seiner eigenen Währung, nicht aber in anderen, privat emittierten Währungen akzeptiert. Das ist eine Wettbewerbsverzerrung, die in einem freiheitlichen Staat eigentlich nichts zu suchen hat.
Welche Auswege sehen Sie?
Reichmuth: Einen echten Geldwettbewerb, wie ihn Nobelpreisträger Friedrich A. von Hayek erträumt hat. Nur dieser kann die ungezügelte Macht über das Geldsystem wieder ins Lot bringen. Dank dezentraler Kryptowährungen wie Bitcoin oder privater Zahlungssysteme wie Libra hat dieser Wettbewerb glücklicherweise bereits begonnen.
Was halten Sie von Bitcoin?
Reichmuth: Der Bitcoin scheint mir heute in erster Linie ein spekulatives Wertaufbewahrungsmittel zu sein, denn seine absolute Knappheit macht ihn zu einem attraktiven Investment. Als Zahlungsmittel dürfte er aufgrund seiner Preisvolatilität ähnlich wie eine Währung mit einseitiger Goldverankerung nur wenig taugen. Seine Rolle als Wertaufbewahrungsmittel muss sich erst noch zeigen; wir haben schlichtweg zu wenig Erfahrungswerte, um dies bereits heute zu beurteilen. Die Funktion einer Recheneinheit vermag er heute ebenfalls nicht zu erfüllen.
Und wie steht es um Libra?
Reichmuth: Der von Facebook angekündigte Libra ist für den Zahlungsverkehr gut geeignet. Als privates Zahlungsmittel ist Libra die Netzwerkwährung par excellence. Die Chancen auf Massenadoption stehen daher gut, vorausgesetzt, die Politik schreitet nicht dagegen ein. Die zu bewältigenden Herausforderungen einer globalen Währung sind allerdings immens – sowohl in rechtlicher als auch betriebswirtschaftlicher Hinsicht.
Wie ist der von Ihnen konzipierte und ausgegebene «RealUnit» in diesem Kontext einzuordnen?
Roth: Der RealUnit ist heute eine von der RealUnit Schweiz AG herausgegebene Aktie. Unsere langfristige Vision ist es, eine private Währung zu schaffen, die im In- und Ausland als Zahlungsmittel verwendet wird.
Sie steigen also selbst in den von Ihnen gepriesenen Geldwettbewerb ein.
Roth: Sehr wohl, doch läuft das Projekt schon über zehn Jahre. Zunächst haben wir die Idee mittels eines Schweizer Fonds umgesetzt. Im Sommer 2017 haben wir ihn aufgelöst, weil wir in der Anlagepolitik zu stark eingeschränkt waren.
In welcher Form?
Roth: Aufgrund der Regulierung sahen wir uns dazu genötigt, Anleihen mit negativer Rendite im Umfang von bis zu 50 Prozent zu halten. Das hat gemäss unserer Auffassung allerdings nichts mehr mit Stabilität zu tun. Den Fonds haben wir dann in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Mit der Blockchain-Technologie unterziehen wir den RealUnit einer weiteren Veränderung.
Worin besteht diese?
Roth: Wir tokenisieren die Aktie der Gesellschaft. Auf diese Weise können unsere Anlegerinnen und Anleger die RealUnit-Aktie als digitalen Token in einer persönlichen Wallet aufbewahren. Ziel der Tokenisierung ist es, die Aktie nicht nur zu digitalisieren, sondern vor allem sie leicht übertragbar zu machen.
Wenn ich den RealUnit erwerbe und ihn halte, habe ich einen Anspruch auf die ihm zugrundeliegenden Realwerte?
Roth: Jeder RealUnit stellt rechtlich betrachtet Eigentum an einer Namenaktie der RealUnit Schweiz AG dar. Wer also im Besitz einer solchen Einheit ist, ist ökonomisch betrachtet an den von der Gesellschaft gehaltenen Realwerten beteiligt.
Wer kann den RealUnit kaufen?
Roth: Nur von der Gesellschaft akzeptierte natürliche und juristische Personen, denn wir sind rechtlich verpflichtet, die schweizerische Gesetzgebung zur Bekämpfung der Geldwäscherei und der Terrorismusfinanzierung umzusetzen. Nach Schweizer Recht sind aktuell nur qualifizierte Anlegerinnen und Anleger berechtigt, RealUnit-Aktien zu erwerben.
Wie kann verhindert werden, dass der RealUnit an nichtberechtigte Personen gelangt?
Roth: Um dies zu verhindern, setzen wir mithilfe unseres technischen Partners CoreLedger die Blockchain-Technologie ein: Der RealUnit-Token stellt ein ERC-20 Token auf der Ethereum-Blockchain dar. Ob ein Token an eine Person übertragen werden kann, ist entsprechend im Smart Contract festgehalten. Die Ethereum-Blockchain stellt sicher, dass die Bedingungen jederzeit eingehalten werden.
Welches Problem lösen Sie mit dem RealUnit?
Roth: Wir schaffen eine Währung, die in der realen Wirtschaft verankert ist. Sie bringt realen und nicht nur nominalen Werterhalt und lässt auch Sparer und Vorsorger am Wirtschaftswachstum partizipieren.
Macht das Sinn in einem Umfeld, in dem die Realwirtschaft durch Interventionen von Zentral- und Geschäftsbanken verzerrt wird?
Roth: Natürlich bewegen wir uns als Investitionsvehikel in einem Umfeld, das nicht frei von manipulierten oder übertriebenen Vermögenspreisen ist. Die RealUnit Schweiz AG stellt allerdings sich von vornherein so auf, dass sie von der nächsten Staats- und Bankenkrise möglichst wenig betroffen ist.
Sie investieren weder in Staatspapiere noch in Bankenaktien. Was tun Sie noch, um Ihre Unabhängigkeit sicherzustellen?
Reichmuth: Aufgrund der Fragilität des heutigen Finanz- und Währungssystems hält die Gesellschaft einen namhaften Teil ihrer Investitionen ausserhalb des Bankensystems. So lagern wir etwa Edelmetalle an unterschiedlichen Orten in der Schweiz, beispielsweise im Gotthardmassiv. Zudem wollen wir unseren Anlegerinnen und Anlegern mit der Tokenisierung die Möglichkeit anbieten, ausserhalb des heutigen Bankensystems jederzeit Überweisungen auszuführen, welche durch Eigentum gedeckt sind.
Um zu einem Zahlungsmittel zu werden, muss RealUnit von einer breiteren Masse verwendet werden. Müssten Sie aufgrund von Liquiditätsüberlegungen nicht früher oder später sowieso auf Staatsanleihen zurückgreifen?
Roth: Es gibt einige Realwerte, die genügend liquide sind. Ich denke da vor allem an Gold und Aktien. Wir sind darum nicht gezwungen, Staatsanleihen zu halten. Mittelfristig wäre eine Bilanzsumme in der Höhe der SNB-Bilanz durchaus mit Schweizer Aktiven umsetzbar, ohne dass man Staatsanleihen erwerben müsste.
Dennoch müssten Sie einen Teil Ihrer Aktiven bei Banken halten, um Market Making betreiben zu können.
Roth: Grundsätzlich ist es nicht unser Ziel, aktives Market Making zu betreiben. Die aktuelle rechtliche Struktur der Aktiengesellschaft würde dies auch nur bedingt zulassen. Wir streben stattdessen organisches Wachstum an. So ist die Frage, ob wir in den Markt eingreifen, heute eher zweitrangig.
Sie haben erwähnt, dass der RealUnit dereinst als Zahlungsmittel zirkulieren soll. Also ist er als Konkurrenz zu Libra zu sehen?
Reichmuth: Libra ist als digitale Währung konzipiert, deren Wert durch Fiatwährungen und Staatsanleihen gedeckt sein soll. Libra muss dafür zwangsläufig mit dem Bankensystem kooperieren. Unser Ziel ist es demgegenüber, eine private Währung in Form von Eigentumstitel herauszugeben und das Kapital möglichst wirtschaftsnah und fernab vom Bankensystem zu investieren.
Eine Maxime Ihres Unternehmens lautet: «Werte statt Preise». Wie ist das zu verstehen?
Roth: Investieren in den RealUnit bedeutet zweierlei: Erstens, wie bereits erwähnt, operieren wir heute in einem historisch einmaligen Zinsumfeld. Unser Fokus liegt darum auf der Krisenresistenz der Anlagen, eben auf Werten statt Preisen. Und zweitens, wir wollen werthaltiges Geld herausgeben und dadurch interessierten Personen Zugang zu einem Zahlungsmittel geben, von dessen Verankerung in der Realwirtschaft sie langfristig profitieren können.
*Karl Reichmuth ist seit über 60 Jahren in der Bankbranche tätig. Er war über 20 Jahre unbeschränkt haftender Gesellschafter der von ihm gegründeten Privatbank Reichmuth & Co in Luzern.
*Vahan P. Roth ist Jurist und hat die CFA-Prüfungen absolviert. Seit über 10 Jahren ist er in der Bankbranche und Finanzberatung tätig. Seit dem Jahr 2009 begleitet er die Entwicklung des RealUnit.
Könnte die Zeitpräferenz nicht invers sein? Ich übe mich heute in Konsumverzicht (ist ja voll im Trend, und wir leben sowieso tendenziell im Ueberfluss). Aber im Alter will ich einen Anspruch auf den Output der dann Aktiven Generation. Und weit und breit keiner, der sich darum reisst, Gegenpartei meiner Präferenz zu sein, er muss dann ja in 30 Jahren liefern. Zumindest für die Schweiz ist das nicht ganz von der Hand zu weisen. Im Modell ist der Konsument triebgeleitet (und muss für den Konsumverzicht entschädigt werden) , der Unternehmer langfristig orientiert (und optimistisch). Heute ist eventuell alles anders?