Immer noch kämpfen Staaten und Regierungen mit den Folgen der Finanzkrise. Doch auch die Wirtschaftswissenschaften wurden durch die Krise in ihren Grundfesten erschüttert. Thomas Straubhaar vom HWWI wirft einen Blick in die Zukunft und zeigt, wie die Normalität zukünftig aussehen wird.
Text: Barbara KalhammerImmobilien-, Finanzmarkt-, und Staatsschuldenkrisen gelten zwar als überstanden, werden uns aber noch viele Jahre beschäftigen. Wie konnte es überhaupt dazu kommen?
Thomas Straubhaar Zum Ende des letzten Jahrhunderts wirkten zwei Entwicklungen in die gleiche Richtung. Die erste war die Globalisierung, die internationale Geschäftsaktivitäten und Investitionen verbilligte. Die zweite war die Einführung des Euro 1999, der in den Peripheriländern für historisch tiefe Zinsen sorgte. Die erste Entwicklung führte vor allem in den USA zu einer Boomphase. Die New-Economy-Euphorie wurde aber 2001 hart gestoppt. Um eine Rezession zu vermeiden, wurden die Zinsen stark abgesenkt. Die Flut des billigen Geldes führte dazu, dass sich sehr viele Private verschuldeten.
Was zur Immobilienblase führte.
Ja, denn einerseits glaubten in den USA viele, sich mit geringem Eigenkapital ein Haus leisten zu können. Andererseits erhofften sich europäische Anleger einen Gewinn aus den steigenden Immobilienpreisen – auch weil mit dem Euro die Risikoprämien in Südeuropa sanken. 2007 platzte die Blase und die Schulden wurden wie bei der Reise nach Jerusalem weitergegeben: von Privaten an Banken, dann zu nationalen Staaten und letztlich an Zentralbanken. Der Euro hat die genannten Effekte also verstärkt.
Obwohl die Krisen als überstanden gelten, sind längst nicht alle Probleme vom Tisch. Welche Hausaufgaben müssen erledigt werden?
Das sind einige, in Europa sicherlich die weitere Restrukturierung der Banken. Es gibt immer noch zu viele Institute mit zu wenig Eigenkapital, die kein wirkliches Geschäftsmodell haben und deshalb sehr riskante Geschäfte tätigen müssen, um nicht gleich Pleite zu gehen. Eine wichtige Frage betrifft die Fiskalpolitik, nämlich wie wir die gewaltigen Schuldenberge abbauen können. Auch wenn es Besserungszeichen in den Peripherienländern gibt, ist der Gesundheitszustand noch sehr labil. Der dritte Aspekt ist die Geldpolitik, wo die EZB einen Exit schaffen und die enorme Geldschwemme einsammeln muss.
Nationalbanken haben im Zuge dieser Krisen eine enorme Macht erlangt. Ist diese Entwicklung gefährlich?
In einem gewissen Sinne schon. Es muss aber gesagt werden, dass die Notenbanken in den USA, Europa und auch der Schweiz ihrer Aufgabe gerecht geworden sind. Sie haben eine Implosion des Finanzsystems verhindert und zielkonform sowie erfolgreich gehandelt. Jetzt jedoch muss der Ausstieg aus dieser Politik und eine Rückkehr zu einem Normalbetrieb gelingen. Es bleibt aber die Frage, ob man die Rolle der Notenbanken überdenken muss. Besonders weil sie vielfach am Rande ihrer Kompetenzen oder auch jenseits davon agieren mussten. Eine endgültige Antwort darauf gibt es nicht.
Aber sicherlich weitere Überlegungen.
Die Frage ist, ob man sie an feste Regeln binden soll und wann sie von diesen Vorschriften abweichen dürfen. Aber auch die Rückkehr zu Währungskörben, fixen Wechselkursen zwischen den grossen Währungsblöcken oder sogar eine Rückkehr zu einer goldgestützten Währung müssen diskutiert werden. Hier stehen wir aber erst am Anfang.
Viele fürchten die Inflation, die in der Vergangenheit Folge der Geldmengenausweitung war. Doch sie kommt nicht.
Alle warten und nichts passiert. In der Schweiz hat die SNB kürzlich die Inflationsprognose gesenkt. In Europa ist das ähnlich, wobei eine grosse Heterogenität besteht. Im Süden sind Deflationstendenzen eine grössere Sorge. Das zeigt, dass alte Gesetzmässigkeiten ausgehebelt werden.Die Entwicklungen stehen in Zusammenhang mit der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, die scheinbar ganz rapide gesunken ist.
Wird es einen schleichenden Anstieg geben?
Das könnte langfristig der Fall sein. Aus heutiger Sicht ist das, vor allem aus Schweizer Perspektive, aber kaum erkennbar. 2014 wird es praktisch keine Inflation geben. Die Anlageentscheide sollten nicht unter der Prämisse starker Inflation gefällt werden. Bestenfalls würde ich von stabilen Preisen, im schlechtesten Fall von Deflation ausgehen.
Im Zusammenhang mit Inflation steht auch die Zinsentwicklung. Wie wird es hier weitergehen?
Der nächste Zinszyklus dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit in den USA starten. Fed-Chefin Janet Yellen betonte kürzlich, dass das erst gegen Ende dieses Jahres oder 2015 ein Thema sein wird. Meine These ist eindeutig: Solange die Leitzinsen in den USA stabil bleiben, wird das auch in der Schweiz der Fall sein.
Die Zinsen steigen aber bereits. Ein Risiko für die Erholung der europäischen Konjunktur?
Die Kredite werden teurer und für langlaufende Anlagen steigen die Zinsen. Diese Entwicklungen wollen die Notenbanken nicht noch zusätzlich beschleunigen. Nach unten kann nicht mehr viel passieren, aber in die Gegenrichtung halte ich Veränderungen dieses Jahr ebenfalls für wenig wahrscheinlich. Wenn eine Anhebung erfolgen sollte, dann in einem sehr gemässigten Rahmen.
Viele sprechen davon, dass wir uns auf dem Weg zurück zur Normalität befinden. Wird es die Normalität, wie wir sie früher kannten, je wieder geben?
Nein, die alte Normalität wird es in ihrer Form nicht mehr geben. Eine neue, in den USA durchaus populäre These könnte mehr empirischen Gehalt bekommen. Sie besagt, dass die tiefen Zinsen nicht auf die Geldflut der Zentralbanken zurückzuführen sind, sondern auf demografische und andere gesellschaftliche makroökonomische Entwicklungen der Weltwirtschaft. Es entstand quasi ein Überangebot an Ersparnissen aus dem Westen, das von der übrigen Ländern und den aufstrebenden Volkswirtschaften nicht absorbiert werden konnte.
Was bedeutet das genau?
Das heisst, das Angebot an Ersparnissen ist weltweit höher als die Nachfrage für fremdfinanzierte Investitionen. Nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage muss ein Überschussangebot dann zwangsläufig zu geringeren Preisen, in diesem Fall also einer Zinssenkung, führen. Wenn das für Autos oder Kleider gilt, muss es auch für Ersparnisse gelten.
Worauf müssen sich Anleger einstellen?
Mittel- bis langfristig werden wir wachsende Volkswirtschaften sehen. Denn weltweit wachsen die Bevölkerungen, sie fragen mehr Güter nach und es wird noch dramatische Aufholeffekte der Masse der Bevölkerung geben. Es ist sicherlich genug Nachfrage nach Produkten, Dienstleistungen und neuen Ideen vorhanden. Das bedeutet, dass die besten Jahre nicht etwa hinter, sondern vor uns liegen.
Das Wachstum steht also im Vordergrund.
Ja, ein kluges Setzen auf reales wirtschaftliches Wachstum wird die nächsten zwei Dekaden sicherlich noch positive Renditen liefern. Aber man muss die realwirtschaftlichen Potenziale viel stärker ins Auge fassen. Reine Finanzmarktinnovationen werden nicht mehr zu den Treibern der Anlageüberlegungen gehören, wie es vor der Krise der Fall war.
Ist die Zeit der Aktien angebrochen?
Ja, wobei sich die Frage stellt, wie viel in den hohen Aktienkursen von heute schon eingepreist ist.
Die Krisen haben auch auf anderen Ebenen zu Umbrüchen und heftigen Diskussionen geführt. Besonders die Auffassung von funktionierenden Märkten wird vermehrt in Frage gestellt.
Absolut. Die Krise hat an vielerlei Stellen gezeigt, dass die alten Wahrheiten nicht mehr gültig sind. Das beginnt mit der Effizienzmarkthypothese, wonach Finanzmärkte maximal alle Informationen perfekt verarbeiten würden und die Märkte somit ein Fieberthermometer für die Realwirtschaft seien. Diese Gültigkeit würde ich heute in keiner Weise so akzeptieren.
Welche weiteren Folgen gab es?
Damit eng in Verbindung steht die Deregulierung. Sie soll immer zu besseren makroökonomischen Ergebnissen führen. Aber sie kann ebenfalls Marktineffizienzen, Monopole und Marktversagen zur Folge haben. Den dritten Aspekt habe ich bereits erwähnt, eine expansive Geldpolitik muss nicht zwangsläufig zu Inflation führen.
Wie konnte sich der Effizienzmythos der Märkte so lange halten?
Bei Investoren gibt es einen Herdentrieb, der sich selbst verstärkende dynamische Effekte nach sich zieht, die auch zum Platzen von Vermögensblasen führen können. Einen ähnlichen Herdentrieb gibt es auch in der Wissenschaft. Bei Forschern besteht ein grosser Anreiz, mit dem Mainstream zu gehen. Das mag erfolgversprechend sein für eine akademische Karriere, birgt jedoch die Gefahr, dass gewisse Konzepte vergleichsweise unkritisch übernommen und als vorläufig richtig betrachtet werden.
Gibt es jemanden, der von diesem Glauben an die Theorie profitiert hat?
Vor dem Hintergrund der Theorie der effizienten Märkte war die Gefahr gross, dass einzelne Akteure an den Finanzmärkten ihre eigenen Spiele spielen. Dass also Finanzmarktinnovationen nicht den Kunden oder der realen Wirtschaft zugutekamen, sondern primär den Interessen der Finanzinstitute und ihren Akteuren dienten. Das kann in einigen Beispielen auch belegt werden. Ratingagenturen sind ihren Aufgaben nicht gerecht geworden. Zudem blieb oft unklar, ob sie durch ihre Bewertungen nicht zum Herdentrieb beigetragen und strategisch davon profitiert haben.
Eigentlich wissen wir um die Irrationalität der Anleger und die Eigendynamik der Märkte. Warum vernachlässigen wir solche Erkenntnisse?
Weil es neue Theorien sehr schwer haben, sich gegen alte durchzusetzen. Auch im Wissenschaftsbetrieb gibt es Seilschaften, Eigeninteressen und Anreize, Neues zu verhindern.
Wie erlebten Sie persönlich diesen Umbruch?
Das war ein Einschnitt in meiner eigenen wissenschaftlichen Erkenntnis und Glaubwürdigkeit. Zu Recht hat mich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung als Konvertiten bezeichnet. Die alten Grundsätzen waren für mich lange Zeit auch empirisch gehaltvoll. Nun kann ich ihnen nicht länger folgen, weil ich einen Grossteil dieser Theorien durch die Realität für empirisch falsifiziert halte.
Sie sagen heute, das Versagen der Finanzmärkte sei die Regel, nicht die Ausnahme.
Ja, heute. Vor 2008 hätte ich das so nicht gesagt. Damals war meine These, dass an den Finanzmärkten die Effizienz die Regel und das Versagen die Ausnahme ist. Die Beweislast heute lautet: Versagen ist die Regel geworden und Finanzakteure müssen belegen, dass eine Deregulierung wirklich zu einem Mehrwert für die reale Wirtschaft und die Kunden führt.
Welche anderen Fehleinschätzungen gab es?
Beispielsweise die Forderung, die Makroökonomie solle stärker mikroökonomisch fundiert werden. Im Nachhinein halte ich das für einen Irrglauben, denn zwischen Makro und Mikro bestehen keine Gemeinsamkeiten. Die Makroökonomie ist keine fleischgewordene Volkswirtschaft. Man kann nicht vom Verhalten einzelner auf das Verhalten einer ganzen Volkswirtschaft schliessen.
In der Schrift «Aufstieg und Niedergang von Nationen» von Mancur Olson heisst es, mikroökonomisches Gewinnstreben führe zum makroökonomischen Untergang.
Das sieht man heute in vielen Bereichen, die man unter dem Modebegriff Nachhaltigkeit zusammenfasst. Einzelne versuchen, ihren Gewinn kurzfristig zu maximieren und verfolgen nur ihren eigenen Nutzen. Dabei beuten sie oftmals Ressourcen aus, wodurch Klima- und Umweltschäden entstehen und langfristig sogar ganze Gesellschaften untergehen.
Haben wir aus heutiger Sicht früher überhaupt etwas richtig gemacht?
Das denke ich schon. Mein Wissenschaftsverständnis lautet, dass Theorien empirisch immer nur für bestimmte Gegebenheiten, räumlicher, zeitlicher und sächlicher Art gültig sind. Das bedeutet, eine ökonomische Theorie kann empirisch nicht den Anspruch erheben, für alle Zeit richtig zu sein. Ihre Relevanz und Brauchbarkeit wird immer stark von den Realitäten geprägt.
Braucht somit jede Zeit ihre eigene Theorie?
Ja. Das ist in meinem Verständnis der grosse Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Bei den Naturwissenschaften ist das sicherlich anders, auch wenn es dort ebenfalls immer wieder neue Erkenntnisse gibt. Was Einstein als bahnbrechende Theorie auf den Weg brachte, wird heute von der Wissenschaft durchaus kritisch gesehen. Bei den Geisteswissenschaften ist das in viel stärkerem Ausmass und rascherem Rhythmus der Fall.
Gesetzmässigkeiten gelten also nicht mehr unbefristet. Was heisst das für das Gewohnheitstier Mensch?
Die Erkenntnis könnte sein, dass wir die Ergebnisse unserer geisteswissenschaftlichen Theorien etwas weniger absolutistisch behandeln sollten. Etwas mehr Demut ist angebracht – und das Bewusstsein, dass es nur vorläufige Erkenntnisse sind und keine in Stein gemeisselten Gesetze.
Stehen wir wieder beim Nullpunkt?
So drastisch ist es nicht. Es gibt schon seit längerer Zeit Erweiterungen der ursprünglichen Theorien. Sie helfen, ein anderes und auch besseres Verständnis von realen Entwicklungen zu erhalten. Dazu zählen beispielsweise die Verhaltens- und Institutionentheorie sowie die Psychologie. Das ist eine Masse von Ansätzen, durch die wir in Zukunft zu Theorien kommen werden, die die Realität besser abbilden.
Wie könnte eine solche neue Theorie aussehen?
Sie muss den Anspruch haben, reale Entwicklungen erklären zu können. Das ist für mich der ultimative Test für eine Theorie. Sie muss sich der Realität stellen und Dinge besser erklären als die Theorien, die wir bisher hatten. Die Krönung wäre dann, brauchbare Handlungsanweisungen für Rechtswissenschaft, Gesellschaft, Regulierung und für die Organisation und Kontrolle von Märkten abzuleiten. Das muss das Ziel theoretischen Handelns werden.
Kann man von einer Ökonomie 3.0 reden? Oder ist es kontraproduktiv, solche Begriffe zu prägen?
Ich würde davor warnen, nach einer Theorie zu suchen, die wieder eine gewisse Allgemeingültigkeit haben sollte. Wir sollten etwas vorsichtiger und realistischer werden in den Erwartungen, die wir in eine geisteswissenschaftliche Theorie setzen.
Wir neigen dazu, schnell zu vergessen. Die Krisen sind für viele längst Vergangenheit. Laufen wir Gefahr, dieselben Fehler erneut zu machen und den nächsten Crash zu verursachen?
Ja, das glaube ich durchaus. Denn auch mit der klügsten Verhaltensweise und der besten Theorie kann das Entstehen von Krisen nicht verhindert werden. Doch Krisen sind nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen, um Dinge neu zu adjustieren, zu bereinigen und aus ihnen zu lernen. Mit Sicherheit wird es sie auch in Zukunft geben. Wir sollten versuchen, den Ausschlag, also die Volatilität der Krisen, zu minimieren. Verhindern können wir sie nicht.
Thomas Straubhaar ist Direktor und Sprecher der Geschäftsführung des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre.