«Die USA erlebt wohl das stärkste Wirtschaftswachstum seit über drei Dekaden»

Die USA starten das grösste Konjunkturprogramm aller Zeiten. Treibt Präsident Biden damit die Inflation hoch? Und wie reagieren die Aktienmärkte und welche Dividendentitel werden sich durchsetzen? Wir diskutieren mit Jeff Schulze, Investmentstratege bei ClearBridge Investments, über die Finanzmärkte.

Jeff Schulze Interview 10X10 Inhalt

Jeff Schulze, die Zentralbanken erzeugen seit der Finanzkrise neues Geld wie selten zuvor, allen voran die US-Notenbank. Hinzu kommt ein riesen Konjunkturpaket von Präsident Biden zur Stimulierung der Wirtschaft. Welche Auswirkungen haben diese Massnahmen?

Jeff Schulze  In der Tat haben die Zentralbanken der Industrieländer ihre Bilanzen stark ausgeweitet. Im letzten Jahr um 9,5 Billionen US-Dollar. Und die US-Zentralbank kauft derzeit monatlich Anleihen im Wert von 120 Milliarden US-Dollar. Das ist gigantisch. Und das von US-Präsident Biden verabschiedete Konjunkturprogramm kam eigentlich zu einem Zeitpunkt, als es diese Massnahmen gar nicht mehr brauchte.

Warum?

Die US-Konsumenten haben, wenn man die Konjunkturschecks vom März mit einbezieht, überschüssige Ersparnisse in Höhe von fast zwei Billionen Dollar im Vergleich zu vor einem Jahr angesammelt. Darüber hinaus haben die US-Politiker in den letzten 12 Monaten erstaunliche 5,3 Billionen US-Dollar an Stimulierungsmassnahmen schon bereitgestellt, das entspricht 25% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Das Ergebnis dieser belebenden Massnahmen ist eine US-Wirtschaft, die im Jahr 2021 wahrscheinlich das stärkste reale BIP-Wachstum seit 1984 erleben wird.

Wird in den USA nun das Inflationsgespenst wachgerüttelt?

Es ist keine Überraschung, dass die meisten Marktteilnehmer die Rückkehr einer ungezügelten Inflation fürchten. Während eine Inflationsgefahr in naher Zukunft möglich ist, bleibt die Rückkehr einer Inflation, wie wir dies aber in den 1970er Jahren gesehen haben, eher unwahrscheinlich. Eine Inflation ist aufgrund von Basiseffekten, welche die schwachen Inflationsdrucke des letzten Jahres übertreffen, aufgrund von Preisdruck im Dienstleistungssektor, da die Nachfrage das eingeschränkte Angebot übersteigt, und globalen Engpässen in der Lieferkette, zu erwarten.

Eine steigende Teuerung wird also eher kurzfristig die Märkte beschäftigen, richtig?

Ja, dieser anfängliche Inflationsschub wird jedoch nicht von Dauer sein. Wenn die Lieferketten wieder instandgesetzt sind, werden sich die Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage in der Dienstleistungswirtschaft korrigieren. Wichtig ist zu verstehen, dass es zu Beginn eines Konjunkturzyklus schwierig ist, eine nachhaltige Inflation zu erzeugen, da der Arbeitsmarkt sehr entspannt ist. Während sich der Arbeitsmarkt in diesem Aufschwung sehr schnell erholen sollte, da die Menschen im Zuge der Wiederbelebung der Wirtschaft wieder in Covid-abhängige Jobs wechseln, wird die Flaute für die nächsten Jahre bestehen bleiben.

Im Moment sehen wir einen Anstieg der Zinsen im langfristigen Bereich. Ist ein weiterer Renditeanstieg möglich?

Ja, ein weiterer Anstieg der Renditen der 10-jährigen US-Bundesanleihen ist in den kommenden Monaten aufgrund des starken Wachstums der US-Wirtschaft im Jahr 2021, der Inflationsgefahr und der Reaktion der Fed auf die fiskalischen Nachrichten recht wahrscheinlich. Doch da die kurzfristigen Zinssätze bei Null liegen, können sich die 10-jährigen US-Staatsanleihen nur bis zu einem gewissen Grad vom kurzen Ende der Kurve abkoppeln. Es bleibt jedoch Spielraum für eine Erhöhung der langfristigen Renditen.

Weil die FED die Zinsen nicht künstlich tief hält, oder?

Die Fed hat mitgeteilt, dass sie nicht versuchen wird, die langfristigen Zinsen zu verankern oder einen Anstieg der realen Renditen zu verhindern. Das bedeutet, dass sich die 10-jährigen an den Fundamentaldaten des Marktes orientieren und nicht künstlich niedrig gehalten werden. Ausserdem wurden die 10-jährigen Realrenditen aufgrund der pandemischen Deflationsrisiken stark negativ und sind es derzeit immer noch. Diese Risiken haben sich jedoch mit dem starken Wachstum und dem für die nächsten Jahre prognostizierten Anstieg der Inflation verringert. Infolgedessen werden die Anleger mehr Ausgleich verlangen.

Was für ein Renditeszenario für 10-jährige US-Treasury haben Sie?

Ich glaube es ist wichtig zu verstehen, dass der Anstieg der 10-jährigen Anleihe in Zukunft sehr viel massvoller ausfallen wird, da US-Anleihen aufgrund des Zusammenbruchs der Kosten für die Währungsabsicherung und des jüngsten Anstiegs der Renditen für ausländische Anleger sehr viel attraktiver erscheinen. Wenn die währungsgesicherte Renditedifferenz in der Vergangenheit die aktuellen Niveaus durchbrochen hat, wurden japanische und europäische Anleger zu bedeutenden Käufern von US-Treasurys. Angesichts dieser Dynamik glauben wir, dass sich der 10-jährige Treasury auf dem Höhepunkt der Inflationserwartungen in diesem Jahr 2,25% nähern könnte, das Jahr aber letztlich zwischen 1,75% und 2% beenden wird.

Die zu erwartenden höheren Zinsen und Inflationsraten bleiben ein Risiko für den Aktienmarkt. Bei früheren Börsencrashs stiegen die Zinsen im Vorfeld ebenso und die Renditekurve wurde steiler. Bisher zeigen die Aktienanleger nach wie vor ruhig Blut.

Das ist so. Die Anleger sind heute nicht verängstigt, weil die Zinsen eben aus den richtigen Gründen steigen.

Können Sie das erläutern?

In den ersten beiden Jahren eines Wirtschaftswachstums ist es durchaus üblich, dass die Zinssätze in Erwartung von höherem Wachstum und Inflation steigen. In dem Bemühen, die sich erholende Wirtschaft zu unterstützen, halten die Zentralbanken die kurzfristigen Zinsen weiterhin niedrig, was die Renditekurve natürlich steiler werden lässt. Dies ist eine positive Dynamik, weil die Zinsen aus den richtigen Gründen, nämlich aufgrund von stärkerem Wirtschaftswachstum und moderater Inflation, steigen.

Doch nur solange die Zinsen nicht aufgrund einer hohen Inflation steigen, oder?

Richtig. Würde das gegenteilige Szenario eintreffen, also steigende Zinsen aufgrund eines bescheidenen Wachstums und einer starken Inflation, das würde Aktienanleger beunruhigen. Dieses Szenario wäre in zweierlei Hinsicht schlecht für Investoren am Aktienmarkt. Erstens sind geringes Wachstum und hohe Inflation ein Umfeld, das in der Vergangenheit die Gewinnmargen unter Druck gesetzt hat. Zweitens führt eine hohe Inflation zu einer viel aggressiveren Reaktion der Zentralbanken, nämlich eine Anhebung der Zinssätze, was die finanziellen Bedingungen verschärft und die Rezessionsrisiken erhöht.

Könnten Tech-Aktien, die in den letzten Jahren die Treiber des Börsenbooms waren, stärker unter Druck geraten, wenn andere Anlagen wieder spürbare Renditen abwerfen?

Im wachstumsschwachen Umfeld des letzten Jahrzehnts haben Anleger den Seltenheitswert von Wachstumstiteln geschätzt. Jetzt befinden wir uns jedoch in einem Umfeld nach der Rezession, in dem Wachstum weniger knapp ist und Investoren praktikable Alternativen haben werden. Dennoch würde ich nicht zu pessimistisch sein bei den Tech-Aktien.

Was sind Ihre Argumente?

Bei Technologie handelt sich um einen zyklischen Sektor, der dazu neigt, in einer sich beschleunigenden Wirtschaft gut zu laufen. Vor diesem makroökonomischen Hintergrund sollten Tech-Hardware und Halbleiter gut positioniert sein, um weiter zuzulegen. Während die relative Bewertung des Gesamtsektors weiterhin einen leichten Gegenwind darstellt, sollte der Tech-Sektor aufgrund der Beständigkeit seines Gewinnprofils mit einem Aufschlag gehandelt werden.

In vielen grossen US-Benchmark-Indizes, beispielsweise im S&P 500, sind Facebook, Google & Co. sehr prominent vertreten. Eine Gefahr?

Eine gewisse Besorgnis über die Konzentration der FAAMG-Aktien im S&P 500 besteht und darüber, ob höhere Zinsen einen tieferen Verkaufsdruck verursachen könnten. Wichtig ist, dass der grösste Teil der Rendite, die diese Aktien seit dem Höchststand im Februar letzten Jahres erzielt haben, durch Gewinnwachstum und nicht durch Bewertungsexpansion erzielt wurde. Alle fünf dieser Aktien verzeichneten im vergangenen Jahr positive Umsätze und Gewinne, weil ihre Geschäftsmodelle perfekt für ein von Covid geprägtes Umfeld positioniert waren.

Deren Geschäftsmodell ist aber auch langfristig weiterhin attraktiv, oder?

Absolut. Die FAAMG-Aktien weisen ein interessantes langfristiges Wachstum auf, generierten beträchtliche freie Cashflow-Margen und verfügen über sehr gesunde Bilanzen. Die säkularen Wachstumsprofile dieser Unternehmen bedeuten, dass Zinsänderungen eine relativ begrenzte Rolle bei der Beschreibung ihrer Renditen spielen. Dies zeigt sich heute deutlich, da sich diese Aktien trotz des rasanten Anstiegs des 10-jährigen Treasury in diesem Jahr wieder ihren Höchstständen nähern.

Welche Sektoren scheinen Ihnen ebenso attraktiv zu sein?

Zyklische Sektoren sollten weiterhin von Anlegern bevorzugt werden. Der zyklische Konsum sollte einer der grössten Nutzniesser der wirtschaftlichen Wiederbelebung sein, da die Konsumenten ihre angesammelten überschüssigen Ersparnisse abrufen.  Dienstleistungsunternehmen standen im Epizentrum der Pandemie und sind am besten positioniert, um von einer Wiederbelebung der Dienstleistungsbranche in der Wirtschaft zu profitieren. Der Energiesektor ist weiterhin gut positioniert, um weitere Gewinne zu erzielen, wenn die globale Nachfrage wieder anzieht.

Und was halten sie von Finanzwerten?

Diese sind gut positioniert, um von dieser Erholung zu profitieren, da die Zinsen steigen und die Kreditverluste geringer ausfallen als erwartet. Die robusten Aktienrückkaufprogramme der Banken sollten dieser Branche im Laufe des Jahres konstant Auftrieb geben.

*Jeff Schulze, Investmentstratege bei ClearBridge Investments, eine Tochter von Franklin Templeton


sentifi.com

Top 10 meistdiskutierte Werte



Kommentar schreiben

  • (will not be published)