Der Anlageexperte Erwin Heri ist ein bekennender Verfechter des indexierten Anlegens. Im Interview äusserst er sich über Inflation, Diversifikation und Anlegerverhalten.
Text: Barbara KalhammerHerr Heri, ehemals sichere Anlagen sind heute risikobehaftet und liefern nur noch tiefe Renditen. Steht ein Anlagenotstand bevor?
Ja, ich denke schon. Dieser kommt daher, dass viele institutionelle Anleger, beispielsweise Versicherer und Pensionskassen, im Prinzip Garantien für Renditen ausgesprochen haben. Wenn sie auf der Aktivseite der Bilanz diese Renditen ausgesprochen haben, müssen sie diese auf der Passivseite erarbeiten, sonst knabbern sie am Eigenkapital. Und bei den privaten Anlegern wird das Risiko, das man eingeht, nicht bezahlt. Wir befinden uns aktuell in einer Tiefzinsphase, in der wir nominell fast nichts verdienen können. Das wird sich jedoch ändern, wenn die Inflation steigt und damit auch die langfristigen Zinsen nach oben klettern.
Sie erwarten steigende Inflationsraten?
Ich denke, dass wir bei der Staatsschuldenpolitik über kurz oder lang einen Teil der aufgebauten Schulden über Inflation aus der Welt schaffen werden. Die Geschichte zeigt, dass sich Staaten ihrer Verschuldungen immer durch Inflation entledigten. Wenn wir wüssten, wie eine Inflation zu steuern wäre, dann läge die Zielrate wahrscheinlich bei 3 bis 5 Prozent. Dies würde dafür sorgen, dass sich die reale Verschuldung nach 12 bis 15 Jahren um 50 Prozent reduziert. Aber natürlich hat auch diese Medaille zwei Seiten. Die Verlierer sind schnell ausgemacht, es sind die Gläubiger. Hier gilt es die 72er-Regel zu bedenken.
Was ist die 72er-Regel?
Sie gibt an, wie lange es dauert, bis sich ein Vermögen beziehungsweise ein Rentenanspruch durch die Inflation real halbiert hat. Bei einer Inflation von 5 Prozent bezahlen sie beispielsweise für das Gipfeli nach einem Jahr nicht einen Franken, sondern 1,05. Ein Jahr später zahlen sie 1,10. Das ist nicht bei jedem einzelnen Preisanstieg wirklich ein Thema. Doch die jährlich wiederkehrende Inflation vernichtet ihr Vermögen fast unmerklich, anhand der 72er-Regel lässt sich dies zeigen. In unserem Beispiel mit den 5 Prozent lautet die Rechnung: 72 geteilt durch 5, also 14. Das bedeutet, nach 14 Jahren hat sich das Vermögen real halbiert.
Erschreckende Aussichten. Doch zurück zu den Finanzmärkten. Haben sich die Zeiten geändert?
Nein, wir leben nicht in völlig anderen Zeiten. Man hat einfach kein historisches Bewusstsein. Ganz sicher kein Bewusstsein für die Wirtschaftsgeschichte. Wenn man mir erzählt, dass die gegenwärtigen Geldmengenexplosionen diesmal keine Inflation produzieren sollen, dann soll man das ruhig denken. Aber Tatsache ist, dass alle allzu aggressiven Geldmengenexpansionen über kurz oder lang inflationär waren. Ich denke, man ist zumindest gut beraten, sich darüber Gedanken zu machen.
Der Vergleich mit schwarzen Schwänen hinkt also?
Je nach Betrachtung. Ein schwarzer Schwan ist ein sehr seltenes Ereignis mit ausserordentlich dramatischen Konsequenzen. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Geschehnisse an den Finanzmärkten in dem Sinne schwarze Schwäne sind. Sie entstehen nicht exogen, sondern sind das Ergebnis des Verhaltens der Marktteilnehmer. Zum Beispiel des Herdentriebs, der dazu führt, dass der Wert einer Aktie um 90 Prozent sinken kann, obwohl sie fundamental vielleicht immer noch einigermassen vernünftig bewertet ist. Das ist nicht wirklich ein schwarzer Schwan, sondern hat zu tun mit dem endogenen Verhalten der Leute.
Verhalten sich die Preise völlig losgelöst von fundamentalen Daten?
Kurzfristig kann dies der Fall sein, war es aber schon immer. Deswegen sagen wir auch oft, dass Börsenkurse kurzfristig einem reinen Zufallsprozess folgen. In der langen Frist ist das nicht der Fall. Überall dort, wo fundamental determinierende Faktoren für einen Preis bestehen, werden die Preise langfristig den Fundamentalfaktoren folgen.
Kann man sich also weiterhin an fundamentalen Kennzahlen wie etwa dem Kurs/GewinnVerhältnis orientieren?
Selbstverständlich. Die kurzfristigen Verwerfungen und die kurzfristigen Volatilitäten der Märkte sind vielleicht in den letzten Jahren etwas grösser geworden, doch die längerfristigen Volatilitäten und die langfristigen Determinanten der Aktienkursentwicklung haben sich überhaupt nicht verändert.
Die Historie zeigt, dass Verwerfungen, wie wir sie in den letzten 10 Jahren gesehen haben, auch in der Vergangenheit existierten. Das mag aus kurzfristiger Warte und mit wenig Erfahrung nicht sofort ersichtlich sein, aber es gab schon immer Phasen, in denen man während 10 Jahren an den Aktienmärkten kein Geld verdient hat. Und immer dann hat man gemeint, Bewertungsmodelle seien nutzlos und würden nicht funktionieren. So ist es eben auch heute. Déjà-vu. Ich gestehe aber jeder Generation das Recht zu, die gleichen Fehler wie ihre Väter zu machen.
Wie sieht es mit der Diversifikation aus? Ist der Ansatz gescheitert?
Ja, hinsichtlich der Reduktion der kurzfristigen Volatilität ist er das. Aber Diversifikation diente ja nicht ausschliesslich der Reduktion der kurzfristigen Volatilität. Dass in Krisensituationen an den Finanzmärkten alles zusammenbricht respektive stark korreliert, ist ja nicht neu. Ich würde darum sagen: Der Diversifikationsansatz ist nicht per se gescheitert, aber die Korrelationen haben zugenommen.
Doch auch dieser Effekt ist nicht wirklich neu. Geldanlage war konzeptionell schon immer die Suche nach tiefen Korrelationen. Als sich seinerzeit zeigte, dass eine Diversifikation im Inland nicht mehr viel brachte, warf man den Blick Richtung Emerging Marktes. Wir haben damals die Korrelation zwischen einem Länderindex und einem Schwellenländer-Index ausgerechnet und stellten fest, dass sie tief war. So beschloss man Emerging-Markets-Produkte zu kreieren. Das machten damals aber alle.
Welchen Effekt hatte diese Strategie?
Die Korrelationen zwischen den traditionellen Märkten und den Schwellenländern nahmen zu. Modernes Asset Management ist permanente Suche nach tiefen Korrelationen. Hier zeigt sich die Endogenität ökonomischer Variablen: historisch tiefe Korrelation, ergo Diversifikationseffekte, ergo neue Produkte, ergo verschwindet der Diversifikationseffekt, weil alle dasselbe tun. Dies sind dynamische Phänomene, die auf das Verhalten der Marktteilnehmer zurückzuführen sind. Die Kunst besteht darin zu antizipieren, welche Konsequenzen das Verhalten der Leute hat.
Genau dieses Verhalten erschwert den Anlageerfolg. Bieten passive Investments hier eine Abhilfe?
Passives Investieren verhindert einige der wichtigsten Fehler. So ist man automatisch diversifiziert und handelt nicht allzu viel. Natürlich habe auch ich selber Freude daran, ab und zu «im Züügs umezheue.» Generell bin ich für Indexieren – aber immer in einem Kern-Satelliten-Ansatz. Der Kern sollte indexiert sein und ein kleiner Teil – je nach Risikoneigung des Anlegers 10, 20 oder 30 Prozent – soll aktiv gemacht werden. Bei diesem sollten sich Anleger auf die Bereiche beschränken, bei denen sie meinen, mehr zu wissen als andere Anleger. Durch die Kombination aus aktiven und passiven Elementen kann gegebenenfalls eine Überrendite generiert werden. Anleger, die das erreichen, sind besser als 90 Prozent der Profis.