Die Nachhaltigkeitsexpertin Dorothea Baur schreibt über die Zusammenhänge zwischen der Covid-19-Pandemie und ESG.
Während grosse Teile der Welt im Lockdown erstarrten, löste die Corona-Pandemie auf den globalen Aktienmärkten Panik und massive Kurseinbrüche aus. In Krisenzeiten verkürzen sich Investitionshorizonte. Damit stehen sie in direkter Spannung zum Kern der Nachhaltigkeit, der Langfristigkeit. Da drängt sich die Frage auf: Wer kann sich im Kampf ums «nackte Überleben» ESG überhaupt noch leisten? Zeigt sich nun, für wen ESG bestenfalls ein Feigenblatt war? Oder wird die Corona-Krise etwa zur Chance für ESG?
Für letzteres gibt es durchaus Anzeichen: Mehrere Analysen legen nahe, dass Unternehmen mit einem starken ESG-Fokus in der Pandemie bisher besser abschneiden an der Börse als solche mit einer schwachen Nachhaltigkeitsperformance. Als Grund wird vermutet, dass diese Unternehmen unter anderem von einer grösseren Loyalität von Kunden, Mitarbeitenden und Aktionären profitieren und eine konservative Bilanzpolitik verfolgen.
Die massiven Probleme in der Beschaffung von medizinischem Schutzmaterial und Medikamenten führten ausserdem die Verletzlichkeit globaler Lieferketten vor Augen. Ob daraus eine Lokalisierung von Lieferketten abgeleitet werden soll, sei dahingestellt. Unbestritten ist jedoch, dass Lieferketten – egal, wie weit sie verzweigt sind – transparent sein müssen, damit in Krisen schnell reagiert werden kann. Und da ESG in der Regel auch Lieferkettenaudits umfasst, sind Unternehmen mit starkem ESG-Fokus hier im Vorteil.
Auch jenseits der Rendite-Frage offenbaren sich interessante Zusammenhänge zwischen der Pandemie und ESG:
1. Die Ökologie steht am Ursprung der Pandemie: Wo Mensch und Tier zu nahe aufeinander leben, steigt das Risiko für die die Entstehung von Zoonosen. Dabei geht es nicht nur um regionale Phänomene wie Wildtiermärkte, sondern viel stärker um die globale Zerstörung natürlicher Lebensräume durch Abholzung und Klimawandel.
2. Die soziale Dimension kommt vor allem bei der Bewältigung der Krise zum Tragen: Sie zeigt sich etwa darin, wie Unternehmen ihre Angestellten schützen. Nicht nur vor Stellenabbau, sondern auch vor Ansteckung. Die Fleischindustrie wurde unter anderem deshalb zu einem Hotspot von Infektionen, weil sie die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden der kurzfristigen Umsatzerzielung unterordnete.
3. Und schliesslich zeigt sich in der Pandemie, wessen Interessen die Governance eines Unternehmens verpflichtet ist. In den Monaten vor Corona bekannten sich viele Unternehmen zum sogenannten Stakeholder-Kapitalismus. Aber wen priorisieren sie in der Krise? Dividendenausschüttungen und Bonuszahlungen werden nun zum Lackmustest für solche selbst proklamierten «Transformationen».
Was folgt daraus? Eine «Rette sich, wer kann»-Panik bringt niemandem etwas. Vielmehr gilt: Rette sich, wer bisher in diejenigen investiert hat, die sich eindimensional an Aktionärsinteressen orientieren. Denn diese verfügen auch in der aktuellen Krise weder über den Willen noch die Fähigkeit, dringend benötigte Beiträge zugunsten der Gesamtgesellschaft zu leisten. Doch genau diese Beiträge stellen letztlich das Fundament für jedes erfolgreiche Business dar.
*Dr. Dorothea Baur ist unabhängige Expertin für Nachhaltigkeit und Ethik mit Schwerpunkt Finanzund Technologiebranche. Sie berät unter anderem Pensionskassen und Banken bei der Erarbeitung und Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien. Baur Consulting AG