Gesundheitssektor als defensiver Stabilitätsanker

Healthcare- und Biotech-Firmen gehören zu den Gewinnern der Coronakrise. Sind diese Unternehmen als Beruhigungspillen in volatilen Marktphasen zu betrachten? Zudem: Dutzende Firmen sind auf der Jagd nach einem Covid-19-Impfstoff. Ist ein Durchbruch in Reichweite? Wir haben bei Cyrill Zimmermann, Healthcare-Experte bei Bellevue Asset Management, nachgefragt.

Text: Rino Borini
Cyrill Zimmermann von Bellevue Asset Management

Healthcare-Aktien gehören zu den Gewinnern der Coronakrise. Kann man sie als Beruhigungspillen in turbulenten Märkte bezeichnen?

Dies darf man durchaus so sagen. In fundamentaler Hinsicht bietet die Branche von konjunkturellen Abschwüngen unabhängige Wachstumschancen und ist bestens positioniert, von einer Aktienmarkterholung zu profitieren. Gerade in turbulenten Börsenzeiten gilt der Gesundheitssektor als defensiver Stabilitätsanker für Anlegerdepots.

Welche Unternehmen haben die Nase vorn?

Die Kurserholung setzt zum Beispiel bei Medizintechnikfirmen dann ein, wenn sich nach einer ersten Schockphase die fundamentale Verfassung der Firmen einschätzen lässt. Die Nachfrage ist kaum abhängig von konjunkturellen Einflüssen. So bilden geringe Einbussen bei der Ertragskraft, solide Bilanzen mit geringer Verschuldung und hohe Cashflows gerade in Krisenzeiten wichtige Stabilitätsfaktoren. Gute Chancen bieten hier Telemedizinanbieter wie Teladoc, Ping An Healthcare Technology, Alibaba Health oder One Medical. Dies aufgrund der Möglichkeiten, Patienten virtuell behandeln zu können. Im Biotechsektor rückt die Coronakrise die Entwickler von Impfstoffen und antiviraler Therapien wieder stärker in den Blickpunkt der Investoren.

Dutzende Firmen sind auf der Jagd nach einem Covid-19-Impfstoff. Ist ein Durchbruch in Reichweite?

Über 200 Wirkstoffe und Medikamente in Bezug auf Covid-19 befinden sich gegenwärtig in der klinischen Entwicklung. Zwar wurden die ersten Impfstoffkandidaten in Rekordzeit entwickelt, dennoch darf man nicht vergessen, dass die Erfolgsquoten in der frühen klinischen Entwicklungsphase tief sind.

Wer könnte das Rennen machen?

Bei der passiven Immunisierung erhalten die zu impfenden Personen Antikörperkonzentrate oder das Blutplasma von rekonvaleszenten Personen, die bereits eine Immunität gegen die Virusinfektion entwickelt haben. Wie lange sich damit eine Immunisierung gegen Covid-19 aufbauen lässt, ist noch ungeklärt. Zu den Vorreitern bei den Immunglobulinen zählt die japanische Pharmafirma Takeda. Doch nur eine aktive Immunisierung kann eine dauerhafte Immunisierung gegen Covid-19 gewährleisten. Moderna ist hier am weitesten fortgeschritten. Das US-Unternehmen startete im März die erste klinische Studie und kann aufgrund der positiven Daten noch in diesem Monat mit der Phase-III-Studie beginnen. Bei positiven Resultaten sollte für das medizinische Personal noch vor Jahresende ein Impfstoff vorliegen.

Modernas Aktienkurs ist in diesem Jahr um über 230 Prozent gestiegen. Besteht nicht die Gefahr, dass Anleger zu viel erwarten?

Moderna ist aufgrund seiner mRNA-Technologieplattform ein interessanter Investment Case – weniger wegen des sich in der Entwicklung befindlichen Impfstoffs gegen Covid-19. Anleger sollten sich nicht zu stark auf die möglichen Therapien gegen Covid-19 fokussieren, deren kommerzielles Potenzial ist überschaubar. Aufgrund des politischen und gesellschaftlichen Drucks werden die meisten zugelassenen Produkte aller Voraussicht nach mehr oder weniger zu Herstellungskosten verkauft werden. Zudem sollten wir in einem Jahr hoffentlich immun gegen Covid-19 sein.

Es spielt eine Rolle, ob ein bewährtes Medikament Therapiemöglichkeiten bietet, oder ob es um ein Neues handelt.

Absolut! Das Unternehmen Gilead erhielt in den USA vor kurzem, per Notfallgenehmigung, die Zulassung für die Verwendung von Remdesivir. Dies, nachdem der Arzneimittelhersteller aufzeigen konnte, dass das Medikament den Krankheitsverlauf bei Covid19-Patienten verkürzt und die Schwere reduzieren kann. Das Präparat soll bereits infizierten Personen helfen und sich zugleich für die passive Impfung von Risikogruppen eignen. Regeneron will in den nächsten Monaten mit klinischen Studien beginnen, erste aussagekräftige Daten sind allerdings erst 2021 zu erwarten. Die hohen Erwartungen an andere antivirale Medikamente haben sich bisher nicht erfüllt.

Ein langfristig-orientierten Anleger erwartet letztlich ein nachhaltiges Wachstum. Oder soll der Investor nun taktisch auf die Corona-Karte setzen?

Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Kurzfristig kann man mit einem Einzelengagement in Covid-19-Impfstoff oder Medikamentenhersteller sicherlich viel Geld verdienen – oder verlieren. Aber ein langfristiger Healthcare-Investor, wie wir es sind, wählt Investitionen nicht aufgrund der Corona-Erfolgsmöglichkeiten aus, sondern aufgrund der langfristigen Aussichten.

Wie beurteilen Sie die Wachstumsaussichten für den Gesundheitssektor abgesehen von Covid-19?

Die Wachstumstreiber bleiben intakt. So etwa die Überalterung der Gesellschaft, die die Nachfrage nach medizinischen Leistungen markant erhöht. Zum anderen führen Veränderungen des Lebensstils, speziell in den Schwellenländern, zu einem drastischen Anstieg der Fettleibigkeit. Diabetes wird zu einem wichtigen Thema. Der dritte Treiber sind innovative Produkte, die bei der Behandlung entscheidende Fortschritte ermöglichen. So wurden im vergangenen Jahr von der US Gesundheitsbehörde 48 neue Medikamente zugelassen, rund die Hälfte wurde von Biotechunternehmen entwickelt.

Welche weiteren Trends sehen Sie im Gesundheitsmarkt derzeit?

Die Coronakrise hat dazu geführt, dass das Bewusstsein von Healthcare deutlich gestiegen ist. Covid-19 hat, nebst den Biotecherrungenschaften, die Digitalisierung des Gesundheitswesen vorangebracht. Das eröffnet viele Investitionsmöglichkeiten, sei es in Form cloudbasierter Lösungen, künstlicher Intelligenz, Big-Data, Robotik oder Sensorik. Durch neue Technologien und der verbesserten Datenqualität erhöht sich die Effizienz bedeutend.

Ist «digitale Gesundheit» die Zukunft der Healthcare-Firmen?

So absolut würde ich das nicht darstellen, aber die Digitalisierung innerhalb des Gesundheitswesens hat definitiv einen riesigen Entwicklungsschritt gemacht. Vor allem in Asien und hier in erster Linie in China hat die Coronakrise digitalen Technologien zum grossen Durchbruch verholfen.

Inwiefern?

Telemedizin und Online-Konsultationen von Gesundheitsdienstleistern hatten einen beträchtlichen Anteil daran, dass die Erstversorgung von Patienten nicht von der Infektionswelle überspült wurde. Firmen wie Alibaba Health und Ping An Healthcare zählen zu den Gewinnern dieser Entwicklung. In letztere sind wir seit dem IPO vor zwei Jahren investiert.

War Telemedizin für China wichtiger, weil es dort kein Hausarztmodell gibt?

Deswegen müssen Patienten für jede Gesundheitsabklärung in ein Provinzspital gehen und bis vier Stunden Schlange stehen. Wenn sie auf die Remote-Anwendungen von Ping An Good Doctor ausweichen, werden sie auf Basis einer künstlichen Intelligenz durch 25 Fragen geführt, bevor eine Diagnose erstellt wird. Diese wird von 1000 eigenen Ärzten überprüft und in 50 Prozent der Fälle verfügen die Versicherten nach acht Minuten über eine Diagnose, auf deren Basis sie sich Medikamente nach Hause senden lassen können. Die Zahl täglicher Konsultation beträgt gegenwärtig 800’000! Auch in den USA hat Corona der Telemedizin zum Durchbruch verholfen, was sich auch in der Performance von Branchenleader Teladoc zeigt.

Gehören Healthcare- und Biotech-Aktien in jedes Depot?

In Gesundheit sollten alle aktienfähigen Investoren direkt oder indirekt investieren. Dieser Sektor ist aufgrund seiner Innovationskraft und der aktuellen Bewertung ein attraktives Feld für Investoren. Zudem bietet Healthcare aufgrund der demografischen Entwicklung und Veränderung des Lebenswandels langfristige Wachstumsraten von fünf Prozent. So haben sich Gesundheitsfirmen schon immer schneller von Börsenturbulenzen erholt als der Gesamtmarkt. Gerade Aktien aus dem Biotechsektor und aus Schwellenländermärkten notieren auf historisch niedrigen Niveaus und bieten langfristig attraktive Einstiegskurse. Das beste Chance-Risiko-Verhältnis ergibt sich für Anleger, wenn sie ihre Investments über diverse Positionen in einem aktiv gemanagten Fonds streuen.

*Dr. Cyrill Zimmermann ist Leiter Healthcare Funds & Mandates und Mitglied der Geschäftsleitung von Bellevue Asset Management. 2001 gründete er die Investmentboutique Adamant Biomedical Investments, die er bis zur Übernahme durch Bellevue 2014 leitete. 


sentifi.com

Top 10 meistdiskutierte Werte



Kommentar schreiben

  • (will not be published)