Die Unsicherheiten an den Finanzmärkte haben in den letzten Wochen zugenommen. Finden die Verwerfungen an den Märkten eine Fortsetzung? Doch auch in Krisenzeiten ergeben sich Anlageopportunitäten. Wir sprechen mit dem Vermögensverwalter Oliver Schicker.
Text: Rino BoriniHerr Schicker, angesichts der Coronapandemie und die verschiedenen Covid-19 Lockdowns in Europa könnten den Finanzmärkten nun eine längere Phase der Unsicherheiten bevorstehen. Welche Gefahrenherde müssen Anleger auf dem Radar haben?
Tatsächlich überwiegen die Unsicherheiten an den Finanzmärkten derzeit wieder. Wir stehen zwar mitten in der Berichtssaison zum abgelaufenen Quartal, doch die vorderhand erfreulichen Unternehmenszahlen werden dieses Mal nicht reichen für eine entscheidende Aufwärtsbewegung. Da die verschärften Covid-19-Massnahmen von den Aktienmärkten in den vergangenen zwei Wochen bereits eingepreist wurden, sehen wir einen knappen Ausgang der US-Wahlen und darauf potenziell folgende Unruhen als grösstes Marktrisiko.
Wie sollen sich Anleger in solch unsicheren Marktphasen positionieren? Was raten Sie?
Da allfällige Rückschläge alle Anlageklassen treffen werden, können Anleger höchstens mit einer erhöhten Liquiditätsquote und einem grösseren Anteil von Gold entgegenwirken. Ein Rückgang der Infektionszahlen ist nicht absehbar, weder in Europa noch den USA.
Müssen wir wieder mit einem grösseren Börseneinbruch rechnen?
Die Lockdowns in Europa – namentlich in Deutschland, Frankreich und Italien – dürften mit dem erwähnten Kursrutsch in der zweiten Oktoberhälfte eingepreist sein. Doch mit den US-Präsidentschaftswahlen und dem leidigen Thema Brexit gibt es weitere Brennpunkte, die für Schwankungen sorgen können.
Ein Lichtblick ist derzeit China, dessen Wirtschaft die Auswirkungen des Virus als erstes zur spüren bekam. Inzwischen hat sich Volksrepublik, ebenfalls als erstes, wieder aufrappelt. Wie beurteilen Sie die Situation?
Für den chinesischen Aktienmarkt sind wir sehr positiv gestimmt, insbesondere für inlandorientierte Technologiewerte. Dies aus vier Gründen: Erstens ist die Wirtschaftserholung weiter fortgeschritten als in Europa und den USA. Zweitens haben asiatische Länder die Pandemie generell besser unter Kontrolle, wodurch einer weiteren Erholung weniger im Weg steht. Drittens ist die von den USA aufgezwungene globale Zweiteilung in Sachen Technologie für China eher eine Chance als Gefahr. Der vierte Grund ist der neue Fünfjahresplan, über den die chinesische Führung derzeit berät.
Was erwarten Sie von diesem Plan?
Er wird dem Land neuen Schub verleihen. Das war in den vergangenen 20 Jahren immer so.
Welche konkreten Opportunitäten sehen Sie für den chinesischen Aktienmarkt?
China wird eine eigene Technologiewelt auf die Beine stellen, unabhängig von Google und Apple beziehungsweise von deren Betriebssysteme Android und iOS. Es wird eine gespaltene Technologiewelt geben, 60 Prozent China – inklusive Asien, Ost- und Zentraleuropa und Afrika – versus USA und Westeuropa mit 40 Prozent. Das Potenzial für die chinesischen Hersteller ist riesig, während das Android/iOS-Universum im Verhältnis geringer wird. Deswegen investieren wir mittel- und langfristig in chinesische Technologiewerte. Aber nicht in die international bekannten Unternehmen wie Alibaba, JD.com, Tencent et cetera, sondern in inlandorientierte Aktienwerte.
Auf welche Unternehmen setzen Sie oder investieren Sie in entsprechende Fonds?
Wir setzen auf eine diversifizierte Lösung und nutzen für unsere Strategieumsetzung zwei preisgünstige Exchange Traded Funds.
So wie die ganze Welt hoffen auch die Finanzmärkte auf einen Impfstoff, der die Pandemie beendet. Wird es mit einem Impfstoff zu einem Kursfeuerwerk kommen?
Je später ein Impfstoff auf den Markt kommt, desto kleiner wird das Feuerwerk, da der «Good-News-Effekt» graduell abnimmt.
Welche Branchen würden vor allem profitieren?
Diejenigen, die am stärksten unter der Pandemie gelitten haben. Dies sind vor allem die Luftfahrt, Reisebranche und andere zyklische Industrien wie Maschinenbau oder Energiewerte.
Trotz Corona halten sich sie die Börsen recht gut. Der S&P 500 etwa steht seit Jahresbeginn knapp fünf Prozent im Plus, wobei die mehrjährige Hausse stark von den Techgiganten getragen wird. Das birgt Gefahren, da Themen wie eine internationale Digitalsteuer oder kartellrechtliche Untersuchungen für Ungemach sorgen könnten. Wie beurteilen Sie die Situation?
Die angesprochenen Highflyer der US-Technologie haben von der Pandemie bedingten Trends zu Online, Homeoffice und Digitalisierung tatsächlich stark profitiert. Und die kartellrechtlichen Untersuchungen sehen wir als grössere Bürde als eine allfällige Digitalsteuer.
Wieso?
Das US-Justizministerium spricht von milliardenschweren Geldbussen wie auch dem Zwangsverkauf von Firmenanteilen oder gar der Aufspaltung der Konzerne. Doch mit Blick auf die jüngsten Ereignisse bei den Präsidentschaftswahlen, drohen den grossen Tech-Konzernen mit einem geteilten US-Kongress weniger scharfe Regulierungsauflagen.
Während die US-Börsen im Plus notieren, steht der SPI seit Jahresbeginn rund drei Prozent im Minus. Sollten Anleger im Schweizer Aktienmarkt mit angezogener Handbremse fahren?
Ja, wobei dies gilt insbesondere für die im SPI zahlreich vertretenen mittleren und kleineren Industriewerte.
Sehen sie spannende Schweizer Einzelwerte, die man auf dem Radar haben sollte?
Hierzulande konzentrieren wir uns auf unsere sogenannten «Swiss Champions». Das sind Unternehmen, die sich durch ein robustes Geschäftsmodell, eine solide Bilanz und internationale Marktführerschaft in Nischenmärkten bewährt haben. Zu diesen zählen Geberit, Givaudan und Sika.
Nachhaltigkeit ist derzeit in aller Munde, auch Ihr Haus bietet entsprechende Lösungen an. Doch der Begriff ist schwer abgenutzt – was verstehen Sie unter nachhaltigem Anlegen?
Nachhaltigkeit ist in der Investmentbranche tatsächlich ein Modewort geworden. Doch oft wird sie rein quantitativ umgesetzt. Wir beziehen das ausgewiesene Wissen des Analysehauses Invera Investment Ethics Research & Advisory, das bereits seit 1982 fundierte Analysen in Sachen Nachhaltigkeit erstellt. Das Ethik-Komitee verfügt auf Titelebene über die Entscheidungskompetenz, ob sich ein Wertpapier für das nachhaltige Anlageuniversum qualifiziert oder nicht.
Riskieren Anleger mit einem nachhaltigen Portfolio Renditeeinbussen?
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Also ganz klar: nein. Die Erfahrung zeigt, dass Nachhaltigkeit sogar einen positiven Effekt auf das Portfolio hat. Ein Beispiel hierzu: ESG-Massnahmen (Environmental, Social, Governance) führen in Unternehmen zu einem umsichtigeren Management und einem grösseren Risikobewusstsein. Dadurch reduziert sich die Gefahr von kostspieligen Negativ-Ereignissen wie etwa Gerichtsprozessen, wodurch wiederum die Finanzierungskosten sinken. Auf Stufe Portfolio führt eine solche Titelselektion dazu, dass gut geführte Unternehmen ausgewählt werden. Sie bringen geringere Risiken mit sich als Firmen, die keine ESG-Standards implementieren.
*Oliver Schicker ist Gründungspartner der Privus AG und verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung in der Finanzbranche. Vor seiner Zeit bei der Privus war er im Private Banking der Commerzbank (Zürich) und der damaligen Bank Leu tätig. Privus AG wurde im Jahr 2009 gegründet.