Nostalgisches Handeln

Der manuelle Börsenhandel wurde vom elektronischen verdrängt, längst geben Algorithmen den Ton an. Doch nicht nur die Infrastruktur auf den Finanzmärkten verändert sich, auch die Bedürfnisse der Kunden haben sich gewandelt. Für den Händler heisst das: flexibel bleiben!

Text: Pascal Hügli
Nostalgisches Handeln

Achtung, fertig, los: «400 Geld!», «420 Brief !» Bis spät in die neunziger Jahre erfolgte der Börsenhandel in der Schweiz am sogenannten Ring. Die Ringhändler erhielten die Aufträge der Kunden in den sogenannten Ringbüros per Telefon und setzten sie im Ring um. Im Jahr 1996 kam es dann zu einer Weltneuheit: Elektronische Börse Schweiz.

Als erste Börse wagte man in der Schweiz den Schritt, den Handel, die Abwicklung sowie die Verwahrung von Wertpapieren auf ein vollelektronisches System zu migrieren. Doch wurde zuerst nur das kleinste Handelssegment, die Auslandsaktien, auf das System aufgeschaltet. Am 15. August 1996 wurde der Ringhandel in der Schweiz zum letzten Mal abgeläutet – eine 146-jährige Ära fand ihr Ende. Stefan Gasser, heute selbständiger Trader, war zu diesen Zeiten Börsenhändler und erinnert sich gut: «Im Ring herrschte stets ein lautes Geschrei. Jeder Ringhändler versuchte mit den jeweils anderen einen profitablen Handel abzuschliessen.» In der Mitte des Rings gab es sogenannte Ringschreiber, die Protokoll zu führen hatten, so Gasser. «Wenn am Abend allerdings etwas nicht aufging und Handelsdif-ferenzen bestanden, musste die Sache in einer Diskussion zwischen den involvierten Parteien bereinigt werden.»

Über die Jahre wurden die Prozesse an den Börsen immer häufiger elektronisch abgewickelt, und mit dem Einzug der Computer wurden die Börsensäle immer kleiner. Die physische Börse gibt es heute nicht mehr, und der Grossteil des Handels wird von Algorithmen übernommen.

Aufträge, die früher manuell ausgeführt wurden, werden heute in einen algorithmischen Tradingcomputer eingespeist, der sie entsprechend den programmierten Parametern automatisch ausführt. Hedgefonds und andere spezialisierte Firmen, die solche Algos betreiben, brauchen nicht nur weniger Personal, sie verfügen zudem über einen Geschwindigkeitsvorteil. Dank diesem erzielen sie mit vielen verschiedenen Transaktionen nicht riesige Margen, doch mit der Zeit läppern sie sich zu schönen Gewinnen. Das elektronische System hat den Vorteil, dass man eine viel grössere Anzahl Titel auf einmal handeln kann. In der Zeit des Analogen wurde noch jede Aktie einzeln und dazu eine nach der anderen abgehandelt. Heute, wo das Anlageuniversum schier unüberschaubar gross geworden ist, sind elektronische Hilfsmittel im Börsengeschäft nicht mehr wegzudenken.

Computer, Algorithmen und Maschinen sind die natürliche Fortentwicklung der Finanzmärkte, ohne sie hätte das beachtliche Wachstum der letzten Jahre nicht stattfinden können. Sie erlauben nicht nur mehr Handel, sondern auch einen nahtloseren Ablauf. Obschon die Handelsmöglichkeiten stark zugenommen hätten, würde relativ betrachtet immer weniger aktiver Handel betrieben, so Gassers Eindruck. Er stellt zudem fest: Nicht nur die Infrastruktur habe sich verändert, sondern auch der Kunde.

Bequem im Index verharren

Früher habe man in aktive Fonds investiert oder man habe seinen persönlichen Kundenberater gehabt, der das Portfolio verwaltet. Als die Kunden bemerkten, dass diese den Vergleichsindex nur selten besiegten, wechselten viele auf passive Anlageprodukte. In der Folge sank die Zahl der aktiven Händler, und auch sonst kam es zu Veränderungen: «Gewisse Portfoliobewegungen sieht man heute nicht mehr. Da jeder auf den Index schaut und nicht auf Einzeltitel, haben neue Nachrichten zu einzelnen Aktien nicht mehr dieselbe Wirkung wir früher.»

Früher konnten neue Unternehmenszahlen viel einfacher in Gewinne umgemünzt werden, da ein Grossteil der Kunden auf die Neuigkeit verzögert reagierte würde. Da heute der Grossteil in Indizes investiert ist, kommt es nicht annähernd zu solchen Umschichtungen wie früher.

Auch Nachrichtenportale wie Bloomberg oder Thompson Reuters, auf die sich früher alle verliessen, haben längst nicht mehr den Status von früher. Gasser hat seine Zugänge längst abbestellt, seine Informationsquellen sind heute soziale Medien wie Twitter.

Doch Nachrichten aus den sozialen Medien sind nicht handelbar, da sie bereits eingepreist sind, wenn sie auf Twitter erscheinen. Das Netzwerk ist für Gasser vor allem dazu da, im Nachhinein nachvollziehen können, warum es zu den Kursschwankungen kam.

Wenn das alles nicht funktioniert – was funktioniert denn überhaupt noch? Wie können Einzelhändler und Privatpersonen an der Börse heute Geld verdienen? Als selbstständiger Einzelhändler befolgt Gasser folgende Devise: Wenn du sie nicht schlagen kannst, verbünde dich mit ihnen. Beim Daytrading hängt er sich daher an sogenannte Momentum-Algorithmen, die in Momentum-Aktien investieren: Wertpapiere, die sich aufgrund eines günstigen Momentums im Aufwärtstrend befinden.

«Indem man diese von den Algorithmen getragene Welle mitsurft, kann man die Maschine, die das frühere Geschäftsfeld zunichte gemacht hat, zu seinen eigenen Gunsten ausnutzen», sagt Gasser. Mittlerweile handelt er nur noch nach Charts: Sobald ein Titel nach einem Momentum-Anstieg unter die Trendlinie fällt, verkauft er ihn.

Dass diese Strategien funktionieren, liegt an der Funktionsweise der Algorithmen: Während Menschen weder vollständig determiniert noch vollständig chaotisch handeln, investieren Algorithmen nach fixen Schemen, sind daher aber auch leichter durchschaubar. Da der Handel heute mehr denn je von Algorithmen beherrscht wird, ist der Erfolg der technischen Analysen durchaus nachvollziehbar.

Wo die Gefahren lauern

Durch die Automatisierung hat das Trading viel von seiner Vielfalt verloren, das gibt auch Gasser zu. Dass es aber heute langweilig ist, kann er nicht unterschreiben. «Für Spannung und Aufregung ist in unserer Zeit der Allesblase, der Zentralbankeninterventionen und des Nullzinsumfeldes gesorgt. Wir wissen nicht, wie das alles enden wird.» Die praktische Erfahrung, die er in seiner Zeit als aktiver Ringhändler gesammelt hat, bringe ihm heute aber tatsächlich nicht mehr viel, zu gross sind die Unterschiede zwischen heute und damals.

Wenn praktische Erfahrung aus früheren Tagen nichts mehr bringt, was macht einen guten Trader heute aus? «Flexibilität. Wer denkt, die Dinge müssen so funktionieren, wie sie schon immer funktioniert haben, kommt nicht weit.» So werde es immer Opportunitäten geben, davon ist Gasser überzeugt. «Offenheit für Neues hilft einem, diese auch zu schnappen, das hat mir meine Laufbahn gezeigt.»

Flexibilität ist entscheidend – und wird es bleiben, da die digitale Transformation noch lange nicht abgeschlossen ist. Der Handel dürfte zudem anspruchsvoller werden, da die Computer weiter an Geschwindigkeit und die Märkte an Effizienz gewinnen. Was sich dafür verkleinern dürfte, sind die Handelsspannen. «Vielleicht sind die Chancen auf Profit als menschlicher Händler dann einmal wirklich aussichtslos, was aber nicht heissen muss, dass es nicht neue Optionen gibt», fügt Gasser an. Gerade dann ist eben wieder möglichst hohe Flexibilität gefragt.

Im Zeitalter des Hochfrequenzhandels dürften Algos tatsächlich die besseren Börsenhändler sein. Doch welche Gefahren gehen von ihnen aus? Insbesondere in einer erneuten Finanzkrise könnten die stur verkaufenden Algorithmen die Krise mit ihren vorprogrammierten Abverkäufen weiter verstärken. Gasser weist in diesem Zusammenhang auf einen anderen Aspekt hin: Aufgrund zunehmender Regulierung sei klassischer Nostrohandel, also dann, wenn man als Bank mit dem eigenen Kapitel handelt, heute quasi inexistent. Zu hoch seien die Eigenmittel, die eine Bank für den Eigenhandel hinterlegen muss. Ohne Eigenhandel, bei dem Banken mit ihrem eigenen Geld am Markt tätig sind, bleibt allerdings jene Kraft aus, die bei einem allfälligen Finanzcrash dämpfend wirken könnte. «In den vergangenen Jahren haben wir den einen oder anderen Flashcrash erlebt, bei dem die Maschinen gewisse Märkte gegen unten leer verkauft haben», erinnert sich Gasser. Dass solche Flashcrashs plötzlich einmal in einer grösseren Krise enden könnten, kann und will auch er nicht ausschliessen.


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