Bitcoin und Kryptoassets sind digitale Werte, ohne die Probleme der digitalen Welt. Eine Genialität also, die noch viel Veränderung bringen wird.
Text: Pascal HügliEs ist einer der meistgehörten Einwände gegen Kryptoassets: Im Gegensatz zu physischen, analogen Vermögenswerten sind Bitcoin komplett virtuell und daher weder greif- noch fassbar. Und würden darum, so die Kritik, jeglicher realer Wertgrundlage entbehren. Die Gegenüberstellung von Analogem und Digitalem scheint im ersten Moment einzuleuchten – doch für das Verständnis von Bitcoin ist sie wenig zielführend. Kryptoassets sind zwar virtuell, doch haben sie die idealtypischen Eigenschaften des Digitalen eben eigentlich überwunden.
So verursacht Bitcoin in der Produktion steigende Grenzkosten. Dieses Merkmal lässt sich in der realen, fassbaren Welt bei Gold ausmachen. Je mehr die Goldproduktion vorangetrieben wird, desto kostspieliger wird sie. Im Fall von Bitcoin ist die Neuproduktion algorithmisch auf einen Höchstwert pro Zeitintervall festgelegt. Das heisst: Egal, wie intensiv man es versucht, pro zehn Minuten lassen sich niemals mehr Bitcoin produzieren als durch den Programmcode vorgegeben. Es ist diese über die reale Welt importierte digitale Knappheit, die dem Bitcoin ein hohes Wertpotenzial verschafft. Dieses verwirklicht sich zwar nur, wenn der Kryptowährung auch tatsächlich Wert beigemessen wird – doch letztlich ist jeglicher Wert immer die Folge subjektiver Beurteilungen von Menschen.
Digitales Inhaberpapier
Bitcoin ist jedoch nicht nur digital knapp, sondern seinem Wesen nach ein Inhaberpapier. Er widerspricht daher auch in dieser Hinsicht der gewöhnlichen Vorstellung eines digitalen Guts. Mit Inhaberpapier ist gemeint, dass man Bitcoin eigenständig halten kann und nicht auf eine Drittperson angewiesen ist. Die Kryptowährung hat somit erstmals bewiesen, dass Inhaberpapiere nicht länger auf Papier gedruckt sein müssen, um über einen Inhaberpapiercharakter zu verfügen. Auf diese Weise wurde die Double-Spend-Problematik gelöst, die für digitale Dateien beispielhaft ist. Emails, Musikdateien und Onlinefotos können beliebig kopiert und somit vervielfältigt werden. Bitcoin hingegen sind nicht kopierbar, sie können exklusiv als Inhaberpapiere gehalten werden. Die Kryptowährung vereint damit aus der analogen Welt bekannte Vorzüge mit den Vorteilen eines digitalen Mediums.
Die Genialität dieser Kombination wissen immer noch viele nicht zu schätzen. Doch das dürfte sich im Verlauf der nächsten Jahre ändern. Bei immer mehr Menschen wird der Umgang mit Digitalem aller Art selbstverständlicher. Während ältere Generationen vielleicht noch als «Touristen» einer analogen Welt Ausflüge in digitale Sphären machen, sind Millennials und die noch jüngeren Jahrgänge längst in der digitalen Welt zuhause. Als Digital Natives aufgewachsen, pflegen sie von Grund auf einen digitalen Lebensstil. Dadurch haben sie eine komplett andere Haltung gegenüber dem Digitalen als Menschen, die in einer analogen Welt sozialisiert wurden.
Eines der eindrücklichsten Beispiele für diese Entwicklung liefert das Computerspiel Fortnite. Für die Google-Kids ist Fortnite weitaus mehr als ein Videospiel. Es ist ihre Lebensrealität, in der sie gesellig beisammen sind und teilweise mehr Zeit verbringen als in der «echten» Welt. Im Februar 2019 fand der grösste Moment in der Geschichte von Fortnite statt: Der US-amerikanische Star-DJ Marshmello gab ein In-Game-Konzert. Sein Auftritt fand komplett virtuell auf einer Showbühne innerhalb des Computerspiels statt. Teilnehmen, in Form ihres Avatars, konnten nur Fortnite-Spieler. Und das taten sie auch: Beinahe 11 Millionen mehrheitlich Jugendliche tanzten mit ihrem Game-Charakter zum digitalen Konzert.
Auf ältere Generationen mögen solche Ereignisse surreal und kurios wirken. Für den Grossteil der Google-Kids sind sie indessen völlig normal. So normal wie die Tatsache, dass V-Bucks, die Währung innerhalb von Fortnite, ein wertvoller Schatz sind. Von dieser wohl berühmtesten In-Game-Währung ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Bitcoin und anderen Kryptowährungen. Im digitalen Mindset liegt auch begründet, dass sich weibliche Google-Kids über einen digitalen, per Smartphone empfangenen Blumenstrauss zum Valentinstag ebenso freuen wie über Rosen, die in der Erde gewachsen sind und Dornen haben. Digitales Gold scheint dieser Generation näher zu sein als echtes Edelmetall.
Exponentielles Denken gefragt
Als Spezies sind wir also gerade dabei, unsere Realität zu digitalisieren. Es dürfte sich dabei um eine weitere und keineswegs die letzte Iteration eines Kultivierungsprozesses handeln, den die Menschheit seit jeher durchläuft. Dabei lernen wir, in immer abstrakteren Kategorien zu denken und auf diese Weise immer wieder neue Potenziale anzuzapfen. Der kulturelle Gewöhnungsprozess an volldigitale Werte hat eben erst begonnen.
Was bei Bitcoin erschwerend hinzu kommt: Es handelt sich um ein exponentielles Phänomen, während unsere Hirne auf lineare Interpolation ausgelegt sind. Dass wir insgesamt dreissig Meter weit kommen, wenn wir dreissig Ein-Meter-Schritte machen, verstehen wir instinktiv. Wenn wir nicht lineare, sondern exponentielle Schritte machen, sieht es anders aus. Die gleichen 30 Schritte exponentiell gedacht, also 2^30 Schritte, bringen einen insgesamt 26 Mal um die Welt – eine Tatsache, die wir uns kaum vorstellen können. Exponentielle Technologien haben uns seit jeher im Nu überwältigt. So waren beispielsweise das Internet oder das Smartphone irgendwann mal da – kurz darauf haben sie, aufeinander aufbauend, die Welt erobert. Bitcoin ist nun die nächste exponentielle Technologie, die auf dem Fundus dieser beiden (und weiteren exponentiellen Technologien) gedeiht.
Genau wie das Internet oder das Smartphone zuvor dürfte das Kryptoasset Zweitrunden- und Drittrundeneffekte zeitigen, die die Welt wiederum grundlegend verändern werden. Heute macht es immer weniger Sinn, die virtuelle und die physische Welt als getrennte Sphären des menschlichen Handelns wahrzunehmen. Sie sind dabei, immer mehr miteinander zu verschmelzen und schliesslich eins zu werden. Dass digitale Bits auf einmal auf einer Stufe mit physikalischen Atomen stehen, wirkt zunächst etwas unheimlich. Als Beispiel dafür dient das Deepfake-Phänomen. Dabei handelt es sich um einen seit 2017 allgemein gebräuchlichen Ausdruck für jene Technik, mit der täuschend echt wirkende Videos erstellt werden – nur dass sie nicht echt sind. Politiker, Schauspieler und andere Promis sind dieser Praxis bereits mehrfach zum Opfer gefallen. Die Macher legen ihnen Worte in den Mund, die sie nie gesagt haben, oder lassen sie Handlungen ausführen, die sie nie gemacht haben. Was ist wirklich, was nicht?
Das Digitale verwischt unsere Vorstellung von Realität und Realem immer mehr. Eine Welt, in der digitale Informationen dominieren, sind wir schlicht noch nicht gewohnt. Interessanterweise könnten sogar im Fall von Deepfakes öffentliche Blockchains helfen, Echtes von Falschem zu unterscheiden. Als unveränderbare und nichtmanipulierbare Datenbank schaffen sie die Möglichkeit, Daten chronologisch zuzuordnen, und können so beweisen, dass ein Video beispielsweise zu einer denkbar unlogischen Zeit entstanden ist und daher ein Fake sein muss.
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