Tokenisierung: Heute Flop, morgen top

Die wirklichen Vorteile der Tokenisierung werden heute intensiv diskutiert. Wird die Blockchain vor allem die Transparenz im Finanzsystem erhöhen?

Text: Pascal Hügli

Tokenisierung – der Begriff ist derzeit in aller Munde. Für viele innerhalb der Blockchain-Szene ist die Entwicklung hin zu einer tokenisierten Welt realer Güter, aber auch virtueller Daten die Zukunft. Ausserhalb der Kryptofilterblase sind die Vorzüge der Tokenisierung unserer Lebensrealität jedoch nicht ganz so offensichtlich. Welche konkreten Probleme also sollen mit ihr gelöst werden?

Eine Hoffnung besteht darin, das auf den Finanzmärkten längst aus der Mode gekommene Konzept des Inhaberpapiers wiederzubeleben. Ein Inhaberpapier ist im Grunde auch das Bargeld, über das man direkt und eigenständig verfügen kann. Aktien und andere Wertschriften waren einst ebenfalls Inhaberpapiere, die von den Banken für ihre Kunden aufbewahrt wurden.

Die Intensivierung des Wertschriftenhandels verursachte Transaktionskosten. Dies führte dazu, dass Wertpapiere nicht mehr physisch gehandelt wurden. Stattdessen begann man, sie an zentraler Stelle zu verwahren. In Zeiten des Hochfrequenzhandels, wo Werte oftmals nur Millisekunden gehalten werden, ergibt eine dezentrale physische Lagerung keinen Sinn. Die Wertschriften werden darum bei einer Zentralstelle verbucht.

In den USA geschieht dies über die «Depository Trust Clearing Company» (DTCC). Das Pendant hierzulande ist die SIX SIS. Sie ist die Sammelverwahrungsstelle des Schweizer Finanzmarktes und gleichzeitig auch eine internationale Sammelverwahrungsstelle für Clearing, Settlement und Verwahrung schweizerischer wie ausländischer Effekten. Beide Institutionen existieren letztlich, um die Gegenparteienrisiken zwischen den Wertpapiere handelnden Parteien zu eliminieren. Wobei das Gegenparteienrisiko nicht wirklich ausgeräumt ist, sondern auf eine zentrale Instanz übertragen wird.

Strukturelle Intransparenz

Letzteres ist nicht ohne Tücken. 2017 beispielsweise wurden in den USA in einer Sammelklage gültige Ansprüche auf 49,2 Millionen Aktien der Firma Dole Food eingereicht, obschon das Unternehmen nur 36,7 Millionen Aktien emittiert hatte. Insgesamt befanden sich 33 Prozent mehr anerkannte Forderungen im Umlauf als Dole-Food-Aktien. Da Wertpapiere gegenwärtig bloss digitale Buchungen auf zentralen Datenbanken darstellen, dürften Diskrepanzen wie diese kein Einzelfall sein. Risiken birgt diese Tatsache insbesondere für die Repo-Märkte. Mit dem Repogeschäft steuern Zentralbanken weltweit die Liquidität des Finanzsystems.

So ist es Finanzakteuren gestattet, Vermögenswerte, die sie als Sicherheit für einen vergebenen Kredit erhalten haben, ihrerseits als Besicherung für einen aufgenommenen Kredit zu hinterlegen. Über den Repo-Markt führt diese Möglichkeit zur Wiederverpfändung (Rehypothecation) zu einer langen Kette (Collateral chain) von immer weiter verpfändeten Vermögenswerten. Mit der Folge, dass letztlich mehrere Parteien in ihren Bilanzen einen gültigen Anspruch auf ein und denselben Vermögenswert ausweisen. Dabei existiert dieser Vermögenswert tatsächlich nur ein Mal.

Problematisch wird es spätestens dann, wenn das gegenseitige Vertrauen unter den RepoMarktteilnehmern verloren geht. Einer Kettenreaktion gleich können leere Versprechen offengelegt werden, was das gegenseitige Vertrauen weiter schmälert. Zuletzt kommt der Repo-Markt zum Erliegen, die Liquidität versiegt. Einzig eine Zentralbank kann dann noch eingreifen und die erforderliche Liquidität bereitstellen.

Dank der technischen Entwicklung rund um die Blockchain erhoffen sich einige, mittels Tokenisierung den Inhaberpapiercharakter von Wertpapieren wieder zum Leben zu erwecken. Eine Blockchain könnte dieses Problem beheben: Da sie Bestand, Transaktionsverlauf und weitere Kennzahlen abbildet, könnte sie das Finanzsystem um einiges transparenter machen.

Doch nur weil etwas technisch möglich wird, bedeutet dies nicht automatisch, dass es auch passieren wird. Gemäss Kritikern brächten auf einer Blockchain abgebildete Inhaberpapiere ein beachtliches Mass an Anonymität mit sich. Heute, wo bei individuellen Vermögensbeständen seitens Politik höchstmögliche Transparenz gefordert sei, hätten Inhaberpapiere einen schweren Stand. Im Zuge der globalen Anstrengungen gegen Kriminalität, Geldwäscherei und Steuerhinterziehung würde strukturelle Intransparenz daher – wie im Fall Dole Food – bereitwillig in Kauf genommen, so das Argument der Kritiker.

Natürlich sind Transaktionen auf einer öffentlichen Blockchain nicht vollkommen anonym. Auch tokenisierte Vermögenswerte werden nicht anonym gehalten, da die Blockchain sogenanntes Whitelisting, also die Benutzeridentifikation, möglich macht. Ob die Blockchain die Transparenz stärken und die Tokenisierung das Inhaberpapier zurückbringen wird, kann nur die Zukunft zeigen.

Atomische Transaktionen

Eine Tokenisierung hätte jedoch noch andere Vorteile. In der Nullzinswelt spielen Luxusgüter wie Uhren, Yachten oder Kunstgegenstände als Anlagegüter eine immer wichtigere Rolle. Dank der Blockchain respektive der Tokenisierung können diese physischen Güter digital gehandelt werden – sie haben eine höhere Liquidität.

Durch die Tokenisierung aller Arten physischer Sachgüter und deren Ablegung auf der Blockchain können sie leichter gehandelt werden. Unter Einbezug künstlicher Intelligenz lassen sich grosse Datensätze viel schneller analysieren. Ohne grosse Kosten zu verursachen, können diese das unendliche Universum tokenisierter Güter durchforschen und so nach vorteilhaften Tauschgeschäften suchen.

Tokenisierung

Die tokenisierte Welt von morgen könnte demnach eine Welt sein, in der Konsumenten, Unternehmen und andere Akteure über alle möglichen geldähnlichen Vermögenswerte, Token eben, verfügen. Sie all könnten fast vollständig und ohne Reibungskosten gehandelt werden. Bisher beschränkt sich der Handel auf binäre Handelspaare.

Tokenisierte Vermögenswerte können zu aus vielen verschiedenen Handelspaaren bestehenden Tauschketten zusammengefasst werden. Ist jedes einzelne Tauschpaar eine atomische Transaktion – das ist bei der Abwicklung über Blockchain-Protokolle der Fall – machen Tauschreihen Sinn. In diesem Fall laufen Transaktionen automatisch ab. Anders bei sogenannten Zugum-Zug-Geschäften, wo stets das Risiko besteht, dass eine Reihe plötzlich abbricht.

In letzter Konsequenz wird dadurch das seit Urzeiten bekannte Barter-Geschäft effizient. Geld als indirektes Tauschmittel könnte in einem solchen Szenario an Bedeutung verlieren. Auch können über einen sogenannten «Location swap» Waren transportiert werden, ohne dass sie tatsächlich bewegt werden müssen – es werden ja lediglich die Ansprüche auf den entsprechenden Vermögenswert getauscht. Auf diese Weise wird mehr mit weniger erreicht.

Durch Tokenisierung wird die Uberisierung des Handels Realität: So wie Uber keine Autos besitzen muss, um Menschen zu transportieren, ermöglicht das Tokenisieren von Vermögenswerten den Transport von Aktien, aber auch realen Sachgütern, ohne sie physisch zu bewegen.

 


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