Haben wir uns mittlerweile an die ewigen Bullenmärkte gewöhnt? Ali Masarwah von Morningstar wirft einen kritischen Blick auf die Finanzmärkte.
Anleger, die in den vergangenen Jahren politische und ökonomische Risiken auf dem Radar hatten und entsprechende Sicherungsvorkehrungen getroffen haben, wurden für ihre Vorsicht nicht belohnt. Die Folgen der Eurokrise wurden am Aktienmarkt nach wenigen Monaten bewältigt, die Post-Brexit-Verluste bereits nach wenigen Tagen «verdaut».
Auch der Trump-Wahlsieg schickte die Märkte nur für Stunden auf Talfahrt. Als die Jamaika-Sondierungsgespräche in Deutschland ein jähes Ende nahmen, existierten nur Händlerprognosen über bevorstehende Kursverluste. Sie materialisierten sich nicht, und am Abend des Jamaika-Exitus ging der deutsche Aktienindex DAX sogar mit einem Plus aus dem Handel.
Wir haben uns inzwischen an den extrem widerstandsfähigen Bullenmarkt gewöhnt, auch wenn der Nachrichtenzyklus in Zeiten der sozialen Medien immer kürzer und atemloser wird. Die Aktienkurse werden mit traumwandlerischer Sicherheit nach oben gezogen. Im Nachhinein werden Bedenkenträger belächelt, doch wer sich an die vermeintlich heiklen Situationen zurückerinnert, der wird gerne eingestehen, dass im Vorhinein nichts klar war.
Stichwort Trump-Wahl: Noch im Oktober 2016 wurde in einer prominenten Fondsmanagerumfrage ermittelt, dass Portfolio-Lenker weltweit die mögliche Wahl des enfant terrible als das zweitgrösste Marktrisiko nach dem Auseinanderbrechen der Eurozone benannten. Umso wichtiger ist es, sich immer wieder aufs Neue die Rahmenbedingungen an den Märkten zu vergegenwärtigen. Machen wir den Versuch: Wirtschaftslage: Die globale Konjunktur ist mehr als nur intakt – die Weltwirtschaft wächst heute so dynamisch wie seit Jahren nicht mehr.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat erst jüngst seine globale BIP-Prognose für dieses Jahr von 3,6 auf 3,7 Prozent angehoben. Wachstumsmotoren sind dabei die Eurozone, Japan, China sowie Osteuropa, deren Ökonomien sich deutlich dynamischer zeigen als die angelsächsischen Länder USA und Grossbritannien, die der IWF nur unterdurchschnittlich wachsen sieht.
Auch wenn der Brexit und die Trump-Wahl keine unmittelbaren negativen Folgen hatten, ist das für die mittlere Frist nicht ausgemachte Sache. Unternehmensbewertung: Europäischen Unternehmen geht es derzeit sehr gut. Vor allem bei deutschen Firmen steigt der Umsatz, und die Gewinne sprudeln. Zugleich sind die Bewertungen europäischer Konzerne gerade im Vergleich zu ihren US-Pendants moderat.
Bewertungsorientierte Investoren haben heute das Nachsehen, sollten aber weiter diskriminieren und differenzieren, auch wenn derzeit alles steigt. Zentralbanken: Die entscheidende rahmensetzende Akteursgruppe sind die Notenbanken, die in vielen Ländern verzweifelt um ihre Glaubwürdigkeit ringen und die niedrige Inflation mit tiefen Zinsen und Quantitative-Easing-Programmen bekämpfen.
Angesichts der Abwesenheit des Zinses in vielen Märkten gewinnen Aktien für viele Anleger, die zuvor typischerweise auf Nominalinvestments gesetzt hatten, an Bedeutung. Das stützt die Kurse und rechtfertigt nach Meinung vieler Beobachter auch höhere Bewertungen. Doch wehe den Sorglosen, sollten die Notenbanken den Schwenk machen. Auch wenn die geldpolitische Wende in den Industrieländern nicht unmittelbar bevorsteht, sollten wir uns der Endlichkeit der derzeitigen Goldilocks-Wirklichkeit bewusst sein.