«Wir müssen bezüglich Renditeerwartungen umdenken»

Erwin Heri gehört zu den Anlageexperten, die Theorie und Praxis vereinen. Der scharfe Denker diskutiert im 10×10.ch Gespräch über eine mögliche Hyperinflation. Zudem ist er davon überzeugt, dass Aktieninvestoren bescheidener werden müssen

Herr Heri, die Zentralbanken haben die Geldmengen stark erhöht, die Wirtschaft ist eingebrochen und die Zinsen werden noch lange bei null oder sogar negativ notieren. Das alles wirkt etwas schizophren.

So wild ist die Sache nicht, etwas aussergewöhnlich vielleicht. Wir müssen weder die Welt neu erfinden, noch die Theorie. Um die heutige Ausgangslage einzuordnen, muss man ein wenig in der Historie graben. In der Vergangenheit haben wir immer wieder extreme Marktgegebenheiten erlebt. So gab es immer wieder Volkswirtschaften oder einzelne Regionen, die eine hohe Schuldenlast aufwiesen oder mit negativen Realzinsen zu kämpfen hatten. Das haben wir x-fach gesehen. Das Problem der aktuellen Situation ist, dass sie sich auf einer globalen Ebene abspielt.

Sie sprechen negative Realzinsen in der Vergangenheit an.

(unterbricht) Wir hatten schon in früheren Phasen mit negativen Realzinsen zu kämpfen, das ist kein Novum. Das ist vielen Leuten nicht bewusst, da wir im Normalfall von Nominalzinsen sprechen. In Tat und Wahrheit sind es aber die realen Zinsen, die relevant sind. Also die Nominalzinsen unter Berücksichtigung der Inflation. Es gab Zeiten, da waren die Realzinsen noch viel stärker im Negativen als heute. Das Problem ist, dass die jüngere Generation dies natürlich nie erlebt hat.

In der Vergangenheit führten Extremsituationen oft zu Hyperinflation. Besteht diese Gefahr?

Das weiss ich nicht, aber ich habe eine interessante These dazu. Werfen wir einen Blick auf den Goldpreis, der Unzenpreis in US-Dollar ist stark gestiegen. Das deutet darauf hin, dass Anleger rings um den Erdball die Gefahr von Inflation sehen. Doch Gold ist eigentlich keine gute Absicherung für «normale» Inflationsraten, wohl aber für Hyperinflationen. Die Frage ist nun, ob die Gold-Investoren tatsächlich so weit denken und eine globale Hyperinflation erwarten – oder ob sie einfach nur spekulieren. Das scheint mir eine interessante Frage zu sein.

In ihrem kürzlich erschienen Smartbook «Geschichte reimt sich, auch am Aktienmarkt» schreiben Sie, die Eingriffe aufgrund der Corona-Krise gleichen einer Operation am offenen Herzen. Wie meinen Sie das?

Wenn ein Arzt am offenen Herzen operiert, wird alles von medizinischen Geräten überwacht, damit er bei einer Fehlentwicklung sofort eingreifen kann. Trotzdem kommt es gelegentlich zu unerwarteten Fehlentwicklungen im Körper, die fatal sein können. Das läuft in der Wirtschaft ähnlich. Sie ist ein komplexes adaptives System, in welchem wir auf dramatische Art und Weise die Rolle des Zufalls unterschätzen. Wir glauben, dass wir die aktuelle Situation jeweils im Griff haben. Die traditionelle Wirtschaftswissenschaft liefert uns dazu interessante mathematische Modelle, die aber nicht selten versagen. Vor allem in Krisensituationen, in denen man sie am meisten bräuchte. Die Wirtschaft ist wie ein Bienennest. Wir wissen nie genau, wo wir uns befinden und was als nächstes passiert. Es können an den unterschiedlichsten Orten die verrücktesten Sachen geschehen und das haben wir nicht im Griff. Ökonomie ist eben eine Sozial- und keine Naturwissenschaft.

Die Aktienmärkte haben die Coronakrise bereits verdaut. Ist nun alles wieder gut?

Die Aktienmärkte tun ja nichts anderes, als die Zukunft auf heute abzudiskontieren. Ganz offensichtlich sind Anleger optimistisch, dass wir die derzeitige Krise einigermassen gut überstehen werden. Aber auch diese Einschätzung kann völlig falsch sein, wir wissen es einfach nicht. Es ist durchaus möglich, dass wir in sechs oder neun Monaten wieder tiefere Aktiennotierungen sehen werden. Aber wir müssen bei den künftigen Renditeerwartungen sowieso umdenken.

Warum?

Wir befinden uns in einer Zeit von Nullzinsen. Das heisst, die Aktienrenditen werden in den nächsten Jahren tiefer sein, als wir es historisch erlebt haben. Denn die erwartete Aktienrendite setzt sich aus dem risikolosen Zinssatz und einer Risikoprämie zusammen. Die Risikoprämie wird kaum grösser, aber die risikolose Rendite ist bei null. Bleibt also die Risikoprämie auf dem historischen Durchschnitt, dann wird die erwartete Aktienrendite künftig bei vielleicht drei Prozent sein – nicht bei den historischen fünf bis acht Prozent. Hinzu kommen teilweise überbewertete Märkte. Es würde mich nicht wundern, wenn der SMI in zehn Jahren immer noch auf dem heutigen Niveau notieren würde.

Tiefere Aktienrenditen haben Auswirkungen auf unser Vorsorgesystem. Müssen Private die Altersvorsorge selbst in die Hand nehmen?

Absolut! Das ist eines der Mantras von Fintool: Die Bevölkerung muss mehr von Finanzen und Anlagen verstehen. Denn wir alle wissen nicht, wie der Zustand unserer Vorsorgesystem in zehn oder zwanzig Jahren sein wird. Aber was wir alle wissen: Wenn wir die private Vorsorge selbst in die Hand nehmen, machen wir uns unabhängiger von Pensionskassen und politischen Prozessen. Vielen ist ja nicht einmal bewusst, dass die Jungen die Alten auch in der Pensionskasse subventionieren. Noch immer herrscht die Meinung vor, dass bei der beruflichen Vorsorge jeder für sich selber spart. Das gilt jedoch nur für einen Teil der Einzahlungen, die restlichen sind für jemand anders.

Sind Aktien, trotz hoher Notierungen, nach wie vor die beste Anlage?

Wir haben kaum eine Alternative. In vielen Fällen ist und bleibt die Aktie auf lange Frist die beste Anlage, trotz allenfalls geringeren Renditen in Zukunft.

Vielen ist die Anlagewelt schlicht zu kompliziert. Wie soll man auf dieser Grundlage die richtigen Anlageentscheidungen fällen?

Sie sprechen Financial Literacy an, also die finanzielle Allgemeinbildung. Ich schreibe seit Jahren Bücher ohne Fachchinesisch – zumindest versuche ich es – und mit unseren vielen Videos auf Fintool zeigen wir auf einfache Art und Weise, was bei der Geldanlage wichtig ist. Aber eigentlich wäre das ja die Aufgabe der Finanzindustrie. Will das die Industrie überhaupt? Intransparenz ist natürlich bis zu einem gewissen Grad auch ein Geschäftsmodell. Ich stelle aber auch immer wieder fest, dass Herr und Frau Schweizer gar nicht so an Transparenz interessiert ist. Beispiel Vorsorge: Die Mehrheit hat keine Ahnung, was auf ihrem Vorsorgeausweis steht und was sie bei Pensionierung erhalten. Es interessiert sie einfach nicht. Im Übrigen ist die Geldanlage gar nicht so wahnsinnig kompliziert. Es gibt ein paar einfache Prinzipien, die man befolgen muss, um eine vernünftige nachhaltige Rendite zu erzielen.

Dann weihen Sie uns doch in diese Prinzipien ein.

Das Stichwort heisst: zielorientierte Geldanlage. Wir nennen das bei Fintool «Zoga». Man definiert, welche Lebensziele man erreichen will und errichtet für diese jeweils ein Konto und ein Depot mit einer zielspezifischen Mittelallokation. Eines der Ziele ist zum Beispiel, dass man immer genügend Liquidität hat. Hier ist die Mittelallokation einfach: Cash. Ein anderes Ziel kann sein, dass in vier Jahren eine neue Küche finanziert werden soll: Auch in diesem Fall ist die Mittelallokation nicht schwierig – vermutlich ebenfalls Cash. Obligationen machen derzeit keinen Sinn und Aktien sind über vier Jahre zu riskant. Ein weiteres Ziel kann die Altersvorsorge sein. Dieser Horizont ist abhängig vom Alter und kann 20, 30, 40 Jahre betragen. Auch in diesem Fall ist die Mittelallokation klar: 100 Prozent Aktien, denn über 20 und mehr Jahre hat man an den globalen Aktienmärkten noch nie Geld verloren, aber oft eine schöne Rendite eingefahren.

Hat die klassische Aufteilung in Aktien, Obligationen und Immobilien, ausgedient?

Die gesamte Mittelallokation wird in obigem Prozess zu einer zufälligen Summe der einzelnen Allokationen, die zielorientiert definiert sind. Das ist doch nicht wahnsinnig schwierig, oder?

Ihr jüngstes Buch nennen sie «Smart Book». Was bedeutet das?

Es ist eine Verbindung von traditionellem Lesen und digitalem Verarbeiten von weiterführenden Inhalten. Unser Buch beschreibt die Corona-Krise in Tagebuchform, zudem verbinden wir die Inhalte mit Erklärvideos, die man dank QR-Code auch auf dem Handy konsumieren kann. SmartBooks sind die Zukunft der Fachbuchliteratur.

*Prof. Dr. Erwin Heri ist ein Urgestein der Finanzmarktszene. Als Professor versteht er die Theorie, als langjähriger Banker kennt er aber auch die Praxis. Heri ist Autor diverser Fachbücher und produziert kurze Lernvideos über den Umgang mit Geldanlagen, die er auf fintool.ch veröffentlicht.

Professor Dr. Erwin Heri
sentifi.com

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