Wird der Wandel heute richtig gedacht? Oder verstehen wir die Relation zwischen Gegenwart und Zukunft falsch? Besonders die Finanzwelt muss sich dieser Fragen annehmen. Eine Kolumne von Patrick Hunger.
«In times of change the greatest danger is to act with yesterday’s logic». Dieses Zitat des Ökonomen Peter Drucker wird im Kontext der digitalen Transformation gerne – und tendenziell oberflächlich – herangezogen, um die Dringlichkeit organisationaler Zukunftsradikalität zu unterstreichen. Die dadurch auferlegte vorwärts gerichtete Zeitreise lässt uns jedoch im Heute nur an das Morgen denken, weshalb heute schon gestern ist. Die Gegenwart, in der Ereignisse tatsächlich stattfinden, ist da nur noch ein zeitloses Friedrich‘sches «Nebelmeer», das es ohne Abstand zum Geschehen schnellstmöglich zu durchqueren gilt. Die Konsequenz ist ein Transformationskontinuum auf der Grundlage vergangener Konzepte für die Welt von morgen. Ein transformatorischer Irrweg im Übrigen, der beispielsweise in der breit diskutierten und innovationsbefreiten Frage sichtbar wird: Wer wird zum «Amazon des Banking»?
Die Gegenwart stellt den CEO, der die strategische Zukunftsorientierung der Organisation vertritt und damit die Ziele für das operative Geschäft vorgibt, folgerichtig vor temporale Herausforderungen. Sie oder er müssen diese Gegenwart erfolgreich erleben bzw. überleben, um überhaupt ihre Wette auf das Morgen einlösen zu können. Es erstaunt daher kaum, dass die geforderte Zukunftsradikalität sich in der zu beobachtenden Transformations-Realität von Banken primär auf Funktionsoptimierungen des Bekannten (z.B. Mobile Banking Features) beschränkt. Die von Peter Drucker angesprochene «gestrige Logik» ist für die Gegenwart ein relativ sicheres Wagnis und erhöht die Überlebenschancen des CEO merklich. Selbst Prozessmusterwechsel, die ein radikales «Next» im Banking nach sich ziehen und historische Verankerungen relativieren, sind konzeptionell rückwärtsgerichtet.
Revolut beispielsweise hat mit seiner «Freemium»-Businessmodelllogik – die interessanterweise dem «Marktplatz Banking» eine deutliche Absage erteilt – eine Leistungsexplosion – vergleichbar mit dem aus dem Hochsprung bekannten «Fosbury Flop» – im Banking erzielt und die Industrie gezwungen, sich diesem Leistungshorizont anzugleichen. Dennoch bleibt auch Revolut der historischen Konzeption des Banking vergleichsweise treu und schickt sich primär an, ein radikal besseres Konto anzubieten. Ein radikal anderes, sich aus der Vergangenheitsverankerung gänzlich lösendes Angebot, das die ‚physikalischen‘ Gesetzmässigkeiten über das Banking hinaus komplett neu definieren würde, ist nicht erkennbar. Auch bei Revolut wird das «Nebelmeer» der Gegenwart lediglich durchquert, anstatt über dieser Undurchsichtigkeit zu stehen und zu verstehen.
Sofern CEOs in der Transformation Gefahr laufen, vorwärtsgerichtet rückwärts zu denken und im Gestern die einzige Wagnis-Inspiration für morgen zu suchen, macht es tatsächlich Sinn, den von unzähligen Autoren beschriebenen «Zukunfts-CEO» zu suchen? Müsste nicht die Fähigkeit, vergangenheitsbefreit die «Logik von heute» auf die Unsicherheit des Kommenden anzuwenden, die Suchgrösse für Zukunftsradikalität sein? Wenn Jeff Bezos von Amazon sagt: «Focusing on the present is no way to run a business», ist zu ergänzen, dass «in the present lies the logic to transform a business». Zurück in die Zukunft ist relativ sicher und bequem. Radikaler Wandel ist jedoch unsicher und unbequem, besonders für CEOs der Gegenwart.
*Patrick Hunger ist CEO der Saxo Bank (Schweiz) AG und Vorstandsmitglied der Swiss Blockchain Association.